Doch noch bevor die neuen Empfindungen in Uwe richtig Platz greifen konnten, geschah etwas völlig Unerwartetes. Oben an der Ecke der mählich ansteigenden Straße, so etwa zweihundert Meter entfernt, stand plötzlich ein Trupp Soldaten. Keine Amerikaner! Deutsche! Ein Feldwebel mit zwei Landsern, Zigaretten rauchend, mit den Gewehren spielend, offenbar leicht angetrunken und irgendetwas rufend. Die weißen Fahnen verschwanden von den Fenstern!
Hastig holte auch Vater das weiße Laken wieder herein. Dabei zitterte er am ganzen Leib. Uwe hatte das vorher und hat es auch nachher nie wieder bei ihm gesehen. Vater hatte offenbar ungeheure Angst. Uwe musste das Tuch samt Fahnenstange ganz schnell unten im Keller hinter einer Kartoffelkiste verstecken. Als er zurückkam, hatte sich der Trupp Soldaten inzwischen genähert. Uwe blickte vorsichtig hinaus. Nicht eine weiße Fahne in den Fenstern, die Straße menschenleer, die Bewohner weggeduckt hinter den Gardinen.
Den Feldwebel schien das zu amüsieren. Er brüllte in einem fort hinauf zu den verlassenen, aber offenen Fenstern. Da Uwe nicht wusste, ob der Militär Übles anstellen würde, blieb auch er versteckt. Vater hielt ihn sogar zurück, als er näher zum Fenster wollte. Trotzdem konnte Uwe hören, wie dieser Feldwebel seine Macht genoss. Protzig rief er zu den Wohnungen hoch, die Leute sollten es nicht so eilig haben, noch hätten er und seine Kameraden alles fest im Griff. Wie besoffen musste der sein, um an solch einen Unsinn zu glauben? Das war selbst dem halbwüchsigen Uwe klar: Drei Männer mit Gewehren würden gegen die Amerikaner nichts ausrichten können. Offensichtlich ziellos trottete der ungebetene Trupp weiter. Schon war die letzte deutsche Streitmacht vorüber und hinter der nahen Ecke verschwunden. Vater zitterte noch immer.
"Gott sei Dank", sagte er, "waren sie nicht von der SS!"
Was das bedeutet hätte, wusste Uwe damals noch nicht.
"Sie hätten uns glatt erschießen können", fuhr Vater fort, und, nach einigem Zögern: "Hol das Ding wieder hoch!"
Uwe eilte. Als er zurückkam, warteten die Eltern bereits ungeduldig. Auf der Straße prangten an den Fenstern schon wieder die weißen Fahnen. An der Ecke stand todesmutig eine alte Frau und rief, die Luft sei rein. Also zeigte auch Vater wieder Flagge. Draußen gruppierten sich unterdessen Einwohner, meist Frauen und alte Männer, und debattierten über den Vorfall. Sie waren der Meinung, sie hätten soeben die letzte Kriegshandlung erlebt. Wie sie sich täuschen sollten!
Plötzlich erschien, vom Chemnitzer Platz kommend, ein Hitler-Junge mit einer Panzerfaust unterm Arm. Er suchte Deckung hinter der Hausecke und brachte die Waffe in Anschlag. Die Leute, die er nicht beachtete und denen er jetzt den Rücken zuwandte, schrien auf ihn ein. Er ließ sich nicht beirren. Vom Platz her kam Lärm auf, der Motor eines Fahrzeuges. Plötzlich ein Feuerball, im gleichen Moment eine laute Detonation. Der irre Krieger hatte abgedrückt. Und schon war er wieder verschwunden.
Die Leute auf der Straße waren erstarrt. Einige, auch Vater, montierten die weißen Fahnen wieder ab. Gespenstige Ruhe. Kinder, wie immer neugierig, wagten sich vor und schauten um die Ecke. Da sie die Deckung verließen und in Richtung Platz verschwanden, war dort offenbar keine unmittelbare Gefahr. Auch Uwe eilte hinaus. Mutter versuchte, ihn aufzuhalten. Schon kamen ein paar Jungs zurück, triumphierend Beute schwingend: Zigaretten!
Dieser junge Schütze, stellte sich heraus, hatte einen amerikanischen Jeep getroffen, der von einer Zufahrtsstraße zum Platz hatte vorstoßen wollen. Die Leute, die sich jetzt drängten, prüften kaum die Lage. Nirgends Amerikaner. Bis auf zwei tote Neger in dem Jeep. Dem einen war der Fuß abgerissen. Was auch Erwachsene nicht hinderte, zwischen den Leichen nach Beute zu suchen, als sei es eine seit langem gepflegte Selbstverständlichkeit. Uwe wurde übel. Er lief zurück und sah, wie Vater das Laken neu montierte
Der Tag und eine lange Nacht vergingen. Ruhe draußen. Am frühen Morgen schwoll in der Ferne ein bis dahin nicht gekanntes Gedröhn an: Panzer! Die Amerikaner rückten vor. Schüsse. Feuer. Sofort brannte ein Eckhaus am Chemnitzer Platz. Aber kein Widerstand mehr.
6. Endlich Frieden
Was war mit dem Krieg? In Glauchau und im unmittelbaren Umland gab es zwar keine Kampfhandlungen mehr, aber jeden Tag wurden sie daran erinnert, dass andernorts in Deutschland noch gekämpft und gestorben wurde. Der Tod kam ja nicht nur zu Lande, sondern noch immer auch aus der Luft.
Zum Glück war nicht zu erwarten, dass die Bomber ihre tödliche Last auf die Heimatstadt werfen würden, denn die gehörte territorial ja nun sozusagen "zu denen", zu den „Siegern“. In dieser Sicherheit gleichsam geborgen war es ein zwar makabres, aber interessantes Spiel zu spekulieren, ob Bomber in Richtung Chemnitz dort abbiegen, also bomben, oder weiterziehen würden nach Dresden. So hockte Uwe gern am Radio und kurbelte nach dem Sender, auf dem jene anonyme Stimme Richtung und Anzahl der Bomber verkündete, die noch immer täglich über sie hinweg zogen. Wenn es um Chemnitz ging, waren dann meist aus der Ferne schwere Detonationen zu hören.
Obwohl also andernorts noch immer der Krieg tobte, kehrte in die Geschäfte der kleinen Stadt urplötzlich ein Hauch von Frieden ein. Die neue Behörde, wer auch immer das sein mochte, hatte offenbar mit Bewilligung der Amerikaner die im Ort aufgefundenen und nicht geplünderten Warenlager zum Verkauf freigegeben. In den Büro- und Papiergeschäften schien sogar der reine Überfluss ausgebrochen. Gar nicht auszudenken, was es da auf einmal alles zu kaufen gab. Leim, Radiergummis, Bleistifte, Reißzwecken. Beim Bäcker hingegen sah es anders aus. Gerade, dass es ein wenig Brot gab. Und beim Fleischer waren die Konservenbüchsen schnell ausverkauft. Aber immerhin, nach Jahren des Krieges und der Entbehrungen war auf einmal, wenn auch nur kurze Zeit, spürbar geworden, wozu Geschäfte eigentlich existieren.
Immer öfter hockte Uwe am Radio und wartete auf den Frieden. Bei Torgau an der Elbe waren sich Amerikaner und Russen begegnet, hatten den nahen Sieg gefeiert, aber in Berlin schien der Wahnsinn kein Ende zu nehmen. Vater kommentierte die von dort kommenden Aushalte-Parolen immer bissiger. Wie überhaupt sollte es weitergehen?
Als im Ort ein Aufruf an die Jugend erschien, sich für den Neuaufbau zu engagieren, verirrte sich Uwe neugierig ins Rathaus, wo angeblich Rat und Hilfe erteilt wurde. Er staunte nicht schlecht, dort hinter einem Schreibtisch seinen Geschichtslehrer anzutreffen, dessen markig-stramme Art, den Hitler-Gruß zu absolvieren, er noch nicht vergessen hatte. Der Herr faselte von einer neuen Zeit und hielt Uwe Goethes "Faust" vor die Nase. Jetzt gelte es, die Klassiker zu lesen. Uwe war nicht gut bei Ohr, überlegte nur krampfhaft, ob dieser Herr bislang gelogen hatte oder ob er nunmehr log. Er verließ das Rathaus geradezu fluchtartig. So hatte er sich das nicht gedacht mit dem Neuanfang.
Endlich kam im Radio die Nachricht, dass die deutsche Wehrmacht in Berlin-Karlshorst kapitulierte. Uwe öffnete das Fenster und hätte am liebsten allen, die auf der Straße zufällig vorbeigingen, die frohe Botschaft vom endlich eingetretenen Frieden zugerufen. Er wartete sehnsüchtig auf seine Eltern. Vater und Mutter waren im Garten gewesen, hatten dort nach dem Rechten geschaut, auch wohl versucht, etwas Nahrhaftes zu ernten. Endlich bogen sie um die Ecke. Als sie vor der Haustür anlangten, rief er ihnen die sehnlichst erwartete Neuigkeit zu. Vater schien sie gar nicht zu beeindrucken, und Mutter äußerte ihre Zufriedenheit eher beiläufig.
Am Abend dann, am karg gedeckten Tisch, verstand Uwe die laue Reaktion seiner Eltern.
„Wir werden den Gürtel noch enger schnallen müssen!“ konstatierte Vater und öffnete die vorläufig letzte Büchse Fleisch.
„Hoffentlich kommt nun keine Hungersnot“, ergänzte Mutter.
Ohne Zweifel: Eine sehr ungewisse Zeit stand bevor. Dennoch: Endlich war Frieden! Und der Alltag, wusste Uwe inzwischen selber recht gut, würde der Alltag bleiben und auf lange Zeit wahrscheinlich noch verdrießlicher sein als bisher.
7. Schachmatt
Nun also herrschten die Amis in der Stadt, und damit war zur