„Ich bin gleich wieder da, Liebling“. Mrs. Wickfort lächelte ihre Tochter an und führte den Arzt über einen schmalen Korridor in einen mager eingerichteten Salon.
„Bitte nehmt Platz, Sir!“ Sie wies auf einen Sessel, dessen Bezug abgewetzt war. Ihre Nervosität war nicht zu übersehen.
„Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten, Sir?“, fragte sie, wobei sie begann, sich an den auf einem Tablett aufgereihten Gläsern zu schaffen zu machen.
„Nein, danke. Aber Mrs. Wickfort setzt Euch doch und beruhigt Euch! Eure Tochter hat nur einen leichten grippalen Infekt. Sie schwebt völlig außer Lebensgefahr. Ich habe ihr einen Saft aus Anserine und Eisenkraut verabreicht. Der wird ihr Fieber senken. Ich werde morgen noch einmal nach ihr sehen.“
Kate Wickfort atmete sichtlich erleichtert auf. Sie bezahlte den Arzt und begleitete ihn zur Tür. „Einen guten Tag, wünsche ich Euch, Sir!“, verabschiedete sich die Frau.
„Den wünsche ich ebenfalls“, entgegnete der Arzt und verließ das alte Haus, um zu Fuß den Weg zurück zu seiner Villa anzutreten.
Der heutige Tag war ungewöhnlich anstrengend gewesen. Er war heute Morgen noch vor Sonnenaufgang von Witherby geweckt worden wegen eines Schlaganfallpatienten. Sofort danach wurde er zur Festung gerufen, um sich um einige Soldaten zu kümmern, die sich von einem spanischen Schiff Fieber geholt hatten - Steward hatte ihnen strikte Bettruhe verordnet. Am frühen Nachmittag wurde er zum Goldschmied gerufen, der sich einen unkomplizierten Armbruch zugezogen hatte und unmittelbar danach zu Anne Wickfort.
Doch, um ehrlich zu sein, kam ihm die ungewohnt hohe Zahl seiner Patienten sehr gelegen, da ihn so keine Zeit blieb, um an das Ereignis zu denken, das sich am heutigen Tag zum zehnten Mal jährte.
Tatsächlich war es wohl einer der schönsten Tage seines Lebens, aber den Umständen entsprechend hätte er das Datum lieber vergessen, um sich den erneuten Schmerz zu ersparen.
An jenem Abend war er erst spät nach Hause gekommen. Er hatte eine Visite bei dem Landgrafen, der an einer schleichenden Grippe litt und wurde beim Gehen von dessen altem Gärtner aufgehalten, der ihn um ein Rezept gegen seine Rückenschmerzen gebeten hatte.
Es war zu jener Zeit, als er der Wirkung des Mohnsaftes verfallen war. Als er endlich in der Bibliothek saß und im Begriff war, wieder in die wunderbaren Träume einzutauchen, kündigte Mary ihm den Besuch von Commodore Stevens an, der - wie sie sagte - in einer äußerst wichtigen Angelegenheit mit ihm sprechen wollte.
An das Gespräch konnte sich der Arzt noch gut erinnern. Er hatte die Nachricht vom Tod seines Bruders und dessen Frau völlig gleichgültig hingenommen. Dr. Steward hatte seinen jüngeren Bruder seit Jahren nicht mehr gesehen und seine Schwägerin kannte er im Grunde nicht. Von Gwyn hatte er an diesem Tag das erste Mal gehört.
Auch nach annähernd drei Jahren war er noch immer nicht über den Tod seiner Frau hinweg gekommen und das Letzte, was ihm damals gefehlt hatte, war ein kleines, elternloses Mädchen. Dr. Steward hatte genug mit seinen eigenen Emotionen zu kämpfen. Wie konnte man von ihm verlangen, sich seiner Nichte und deren Sorgen anzunehmen?
Nachdem er Gwyn gesehen hatte, die sich damals an den Commodore geklammert hatte und ihn skeptisch musterte, hatte er Stevens sogar den Vorschlag unterbreitet, das Mädchen mitzunehmen, doch er hatte darauf bestanden, das Kind bei ihm zu lassen.
Rückblickend betrachtet wusste er, dass es das Beste war, das ihm passieren konnte.
Vor zehn Jahren war er jedoch ganz anderer Meinung gewesen: Nachdem sich der Commodore verabschiedet hatte, hatte der Arzt versucht, seine Gedanken zu ordnen. Sein erster Einfall war, Gwyn auf eine Internatsschule zu schicken, doch in Anbetracht ihres Alters konnte er dies erst in einigen Jahren ernsthaft in Erwägung ziehen...
Als Steward am nächsten Morgen das Speisezimmer betrat, saß das Mädchen bereits schüchtern neben ihrer Gouvernante und beobachtete ihren Onkel, der gelegentlich an seinem Tee nippend das Schreiben, das ihm Stevens gegeben hatte, zum wiederholten Mal durchlas. Seiner Nichte schenkte er keinerlei Beachtung.
„Wann kommen Mami und Daddy wieder?“, fragte Gwyn auf einmal.
Steward sah nur kurz von dem Schreiben auf, ging aber nicht auf ihre Frage ein.
Kurz danach verließ er die Villa, um seinem gewohnten Tagesablauf nachzugehen.
In den vier folgenden Tagen sah er seine Nichte kaum. Nur beim Frühstück und beim Abendessen saßen sie gemeinsam am Tisch. Das Mädchen versuchte immer wieder mit ihm zu reden, aber Steward ging auf keinen ihrer Versuche ein. Allerdings stellte er fest, dass er sich langsam an die Anwesenheit des Kindes gewöhnte.
Als er am späten Nachmittag des fünften Tages wieder nach Hause kam, war die Villa so still wie gewöhnlich. Der Arzt stieg die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer.
Als er die Tür öffnete, empfing ihn ein ungewohntes Bild. Auf dem großen Schreibtisch standen verschiedene Fläschchen. Gwyn kniete auf seinem gepolsterten Stuhl und war im Begriff, den Inhalt zweier Flaschen zusammenzuschütten.
„Was in Gottes Namen tust du hier, Kind?“ Steward stürzte auf das Mädchen zu, das ihn unschuldig ansah.
„Was machst du denn mit den ganzen Flaschen?“, fragte sie.
„In ihnen werden wichtige Arzneien aufbewahrt“, erklärte der Arzt, wobei er die Fläschchen verkorkte und wieder in den Schrank zurückräumte.
„Arzneien? Kümmerst du dich um kranke Leute?“, fragte das Mädchen weiter.
„Nun, ich bin Arzt. Aber ich versorge nicht nur Kranke sondern auch Leute, die sich verletzt haben.“ Dr. Steward wandte sich wieder dem Mädchen zu, dessen Aufmerksamkeit bereits auf etwas Neues gerichtet war.
„Was ist das?“ Gwyn deutete auf eine Apparatur, die auf einem kleinen Holztisch neben dem Schreibtisch stand. Das Gerät bestand aus zwei Teilen und war aus Messing. Das Auffälligere hatte Ähnlichkeiten mit einem Fernrohr, das an einem Stativ befestig war. Das Okular war größer, als das eines gewöhnlichen Fernrohrs, während das Objektiv nicht breiter wurde sondern immer schmäler und auf den schweren Messingfuß der Apparatur zeigte. Der andere Teil war ein weiteres Stativ, auf dem eine Flasche mit einer trüben Flüssigkeit befestig war. Daneben ragte ein dünnes Rohr aus dem Gerüst. Zwischen diesem und einem Messingring, der auf die gleiche Stelle ausgerichtet war, wie das sonderbare Objektiv war eine große Linse.
„Das ist ein Mikroskop nach Robert Hooke“, erklärte Steward schlicht. Doch Gwyns fragender Blick ließ ihn fortfahren:
„Mittels eines Mikroskops werden kleine Gegenstände oder Körper, die für das menschliche Auge nicht erkennbar sind, sichtbar. Durch zwei Sammellinsen, eine am Objektiv“, er deutete auf das spitze Ende des Rohres, „die andere am Okular, können die Körper bis auf das 60-fache vergrößert werden - zumindest bei diesem Modell. Allerdings werden die Objekte seitenverkehrt dargestellt. Ich habe aber gehört, dass Antonie van Leeuwenhoek, ein niederländischer Feldmesser, verschiedene Mikroskoptypen konstruiert, die sogar eine 270-fache Vergrößerung schaffen.“ Während er sprach, war er zu einem anderen Schrank getreten.
„Und wozu bracht man ein Mirkrokop?“, fragte Gwyn, die inzwischen auf den Schreibtisch geklettert war, um das hooke'sche Mikroskop genauer zu betrachten.
„Mikroskop“, verbesserte sie Steward, wobei er mit einer kleinen Glasplatte und einer Flasche in den Händen auf dem Schreibtischstuhl Platz nahm.
„Nun, vor gut einem halben Jahrhundert begann man Insekten zu zergliedern und Pflanzenschnitte anzufertigen. Das Mikroskop wurde ein wichtiges Hilfsmittel der Wissenschaft. Einige Jahre später entdeckte man Bakterien, Blutzellen und Spermien. Um das Jahr 1665 verwendete Athanasius Kircher erstmals ein Mikroskop zur Erforschung von Krankheitsursachen. Ein bedeutender Schritt für die moderne Medizin, musst du wissen, denn Kircher fand tatsächlich heraus, dass der ‚contagium animatum’, der lebendige Erreger, für Krankheiten verantwortlich ist. Seit dieser Entdeckung hat sich die Zahl der Heilmittel und Methoden