6
Sie kann sich nicht erinnern, wie sie dorthin gekommen ist, wie lange sie schon dort liegt, flach auf dem Rücken im weichen Bett unter dem Moskitonetz. Wer hat das da aufgespannt? Sie liegt schwer und unbeweglich in diesem Zimmer, ihre Arme und Beine wie in Beton eingelassen, sie kann sie nicht bewegen, muß aufs Klo und kann sich nicht erheben, so sehr sie sich auch darauf konzentriert. Es ist dunkel und dort wo sie die Veranda vermutet, hört sie den Wind flüstern, als hätte jemand kleine Muscheln an dünnen Fäden aufgehängt, daß sie mit ihr sprechen, sie beruhigen. Ihr Kopf liegt in einem Frauenschoß und fremde Hände flößen ihr einen bitteren Tee ein. Zwischen ihren Beinen wird es warm, sie pinkelt und es gelingt ihr immer noch nicht, sich zu bewegen, sie verliert das Bewußtsein. Später, viel später wird sie ihre Augen einen Spalt öffnen und sie erblickt einen fremden Mann, der, nur mit einem Leopardenfell bekleidet, mit beiden Fäusten zum Schlag ausholt. Er sieht sie nicht an, seine Augen sind auf ihr Herz gerichtet und er nimmt es nicht wahr, daß sie wach ist. Entsetzt schließt sie die Augen und ein Schmerz läßt sie aufbäumen, es ist, als hätte er ihr einen Pfahl durch die Brust getrieben.
Es dauert, bis sie zu sich kommt, aus einer tiefen Ohnmacht kehrt sie zurück in ihr Zimmer, in das Schwarz hinein dämmert der Morgen und sie hört wieder diese Frauenstimme, die vor sich hin summt, und als sie die Augen öffnet, steht Harald an ihrem Bett. Er trägt einen Kaftan, den sie nicht kennt, lange und nachdenklich blickt er sie an. Bevor er sich abwendet hält er kurz inne, entschließt sich, ihr seinen Talisman zu schenken, vorsichtig löst er die zierliche Kette vom Hals und reicht ihr unter dem Moskitonetz den kleinen, silbrigen Delfin, den sie schon immer gemocht hat, und durch den wehenden Vorhang geht er davon, nicht ohne das Windspiel anzurempeln und die Muscheln erzeugen wieder diesen elfenhaften Ton und die Frauenstimme verschwindet und sie schafft es nicht aufzustehen und ihm nachzugehen.
Er ist nicht tot, er lebt. Und sie versucht zu ergründen, was das bedeutet. Warum versteckt er sich vor ihr? Warum läßt er sie glauben, er hätte einen Unfall gehabt? So etwas würde er nicht machen, nicht mit ihr, denkt sie tatsächlich für einen Moment und wenig später fällt es ihr wieder ein: es gibt keinen Grund, ausgerechnet ihm zu vertrauen. Und sie bleibt liegen unter dem Moskitonetz und als es an der Tür klopft ist die Sonne längst weitergewandert und schickt ihre Strahlen bis zum Bett. Und sie liegt in diesem Bett, hilflos, erbärmlich und will nicht, daß jemand hereinkommt und sie so findet. Ein Schlüssel im Schloß und sie kann sich nicht erinnern, ob sie die Kette vorgelegt hat, zieht sich das Laken unters Kinn, die Tür öffnet sich langsam, ein junger Mann schiebt sein Gesicht durch den Spalt und sie krächzt ihm entgegen: No. I am sick! und er fragt, ob sie irgendwas möchte, tea, breakfast und sie sagt No! Just leave me alone!
Und bleibt im Bett, und betrachtet die Sonnenstrahlen, wie sie sich aus dem Zimmer zurückziehen und immer steiler und härter aufprallen, auf das Gras im Garten, sich ihren Weg bahnen, durch die Blätter der Bäume, die jetzt der Wind hin und her bewegt, und sie wartet auf Harald, der jetzt eigentlich vom Dienst zurückkehren müßte, erschöpft von einer aufreibenden Nachtschicht kriecht er wortlos zu ihr unter die Decke, schmiegt sich an sie und seine Hände auf ihren Brüsten, ein Finger spürt nach, ob sie wach ist und vielleicht bereit, mit ihm zu schlafen, nur ganz kurz wenigstens, er will nicht reden, sie nicht behelligen, mit den Ereignissen dieser Nacht. Und sie stellt sich schlafend, belauscht seine Atemzüge, die lang werden und zaghaft übergehen in ein leises, ein melodisches Knurren, das klingt, wie das wachsame Grollen eines Leoparden und das ihre Nerven beruhigt und auch sie wird schläfrig und rollt sich in seinen Arm.
Und später dann ist Harald gegangen, das Bett ist zerwühlt und sie weiß nicht, wie lange sie hier gelegen hat, als der Morgen kommt. Sie quält sich aus den durchgeschwitzten Laken und sucht nach ihrem Handy, will wissen, welcher Tag und wie spät. Unter der Dusche merkt sie, wie ausgehungert sie ist und es fällt ihr nicht schwer, sich im Spiegel zu betrachten, und obwohl sie zerknittert aussieht und mitgenommen, gelingt es ihr, sich selbst ein Lächeln schenken und sie kämmt ihr nasses Haar, steckt es im Nacken zusammen, wühlt nach Zahnpasta und findet schließlich das Handy, der Akku hat aufgegeben.
7
Die gleißende Sonne auf dem Weg durch den Garten und allmählich verblassen die Albträume, lösen sich auf und verflüchtigen sich in den Schatten der Bäume und eine freundliche Kellnerin geleitet sie an ihren Platz. Ihr Tisch steht an der Balustrade, da, wo am Abend die Bühne war und sie kann das Meer sehen, das sich jetzt weit zurückgezogen hat. Draußen am Riff weiße Schaumkronen. Unten am Strand wuseln Menschen, ein Kameltreiber mit imposanten Tieren, alle drei mit Blumen festlich geschmückt fürs Weihnachtsfest. Etwas einfältig schreiten sie durch den weißen Sand, aneinandergekettet, auf der Suche nach Kundschaft. Sie will Frühstück bestellen, hungrig wie eine Löwin jetzt. Good morning, how are you? - Good, how are you? - Very fine, thank you. So how was your sleep? Did you sleep smoothly? Barbara ist irritiert, will er das wirklich wissen? My name is George, as you can see on my badge here. I am your waiter and you should not hesitate to ask me questions. George, der Kellner, schickt ihr ein zufriedenes Lächeln. Er spricht langsam und deutlich mit ihr, wie mit einem Kind, er hebt und senkt seine Stimme auf übertriebene Weise, wie ein Sprachtrainer vielleicht, auf einer CD. We have a buffet over there and what would you like to drink? ... Tea or coffee? Some papaya juice? George ist bemüht, ihr das zu Gefühl geben, sie sei der wichtigste, der einzige Gast hier, doch fühlt es sich an, als sollte sie ihm auf den Leim gehen, er war nicht ehrlich und seine Fürsorge kam nicht von Herzen.
Tea please. Der Hunger ist irgendwie weg jetzt, aber die Katze ist da. Na du süße Maus, hast du mich wiedergefunden, ja? Na jetzt weißt du ja meine Zimmernummer, die steht hier auf dem Schild, guck mal, sie hält es der Katze unter die Nase, kannst du nicht lesen, was? Die Katze ignoriert das Schild und versucht Barbara zum Büffet zu treiben, sie hat Hunger und Barbara fügt sich, packt Obst und reichlich Fisch auf einen großen Teller und der Koch brät ein Omelett mit Käse für sie und die Katze.
Als sie zurückkehrt sitzt Kerstin an ihrem Tisch, na, ich dachte sie freuen sich über Gesellschaft, Kindchen. Und, gut geschlafen? Ich hab sie ja Tage nicht gesehen. Wo sind sie denn abgeblieben? und ohne Barbaras Antwort abzuwarten, hievt sie sich aus dem Korbstuhl und startet Richtung Büffet. Ein gehöriger Schrecken, Barbara ist sich nicht sicher, wie viele Tage sie in dem Zimmer verbracht hat, wieviel Zeit ist vergangen, seit sie hier angekommen ist? sie weiß es nicht. Und sie weiß nicht, ob sie die Gesellschaft von Kerstin erträgt und füttert zügig die Katze. Ihr Blick fällt auf das Ehepaar am Tisch hinter Kerstin. Schweigsam sind sie in ihr Frühstück vertieft. Hin und wieder wirft er Barbara einen heimlichen Blick zu, wohl weil er glaubt, sie würde ihn nicht bemerken, hinter seiner dunklen Brille und dann sagt er etwas zu seiner Frau, was Barbara nicht versteht und die wendet sich um. Ungeniert schaut sie herüber, ohne einen Gruß oder eine Geste. Sie nickt ihrem Mann zu und antwortet leise, so daß Barbara nichts versteht und sie fühlt sich belauert von den Gästen hinter ihren Sonnenbrillen und Kerstin kommt mit beladenen Tellern und begrüßt die Tischnachbarn wie alte Mannschaftskollegen, das sind Ruth und Dieter aus Kolbermoor und das hier ist Barbara und der Wasserfall versiegt für einen Moment. Ruth und Dieter nicken ihr ungelenk zu und versenken sich in ihr Frühstück.
Eine kleine Weile ist Stille und Barbara gießt sich Tee nach. Ja trinken ist wichtig hier in den Tropen, minimum 3 Liter, das kann ich ihnen nur raten. Schwül ist das ja, der Regen hat zwar ein bißchen Abhilfe gebracht, aber so schwül wie in den letzten Tagen, das ist nicht normal. Im Januar vielleicht schon, aber nicht im Dezember. Haben Sie sich denn gut eingekremt? Sie wühlt in ihrer enormen Strandtasche. Hier Faktor 50 und reicht die Flasche an Babara weiter. Sie haben so empfindliche Haut. Barbara zögert, dann cremt sie sich folgsam ein. Wissen Sie, wo ich so was hier kriege, Sonnencreme, Wasser? Haben die hier einen Laden? Und Kerstins Gesicht verwandelt sich in ein Schulbuch, ernst und allwissend schaut sie drein und ein klein wenig stolz, weil Barbara ihren Rat sucht. Zum Gate raus, rechts die Straße runter, dann gleich auf der linken Seite so ein Flachbau, da gibts eine Bar und einen Inder, der