Gleich links neben der Eingangstür steht eine stattliche Sammlung an Plastikschälchen, in denen Wattebetten darauf warten, von kleinen Pflanzen bedeckt zu werden. Aus einigen der Wattebeete sprießen auch bereits kleine grüne Keime. Die Besitzer dieser Frühbeete sind sicher mächtig stolz darauf, dass ihr aufopferungsvolles Kümmern sich auszahlt. Mir persönlich fallen aber zwei Schälchen ins Auge, bei denen mich sentimentale Erinnerungen überkommen. Die eine Plastikwanne ist zu gut drei Vierteln mit Wasser gefüllt. Der übereifrige Gießer scheint diesen Zustand auch mit einiger Gewissenhaftigkeit bereits über Tage aufrecht erhalten zu haben, denn die ursprünglich am Boden der Schale liegende Watte ist in dem kleinen Tümpel nur noch in Form schwebender Klümpchen auszumachen. Da hat es wohl jemand zu gut gemeint. Ganz rechts hinten steht ein Behälter, der mir hätte gehören können, wäre ich noch Schüler dieser Lehranstalt. Die Watteschicht ist sehr schmal und dünn, so als wäre sie einmal gewässert und dann an einem besonders warmen Ort vergessen worden. Ein paar vertrocknete Samen zeigen an, dass die Aussaat erfolgt ist, dann aber der gärtnerische Eifer deutlich nachgelassen haben muss. Instinktiv muss ich lächeln. Dieses Kind ist mir auf Anhieb sympathisch.
Ein paar Schritte weiter komme ich an einen Tisch, auf dem allerlei Tongefäße stehen. Ein in formvollendeter Handschrift beschriebenes Schild informiert mich darüber, dass es sich um Ergebnisse des Keramikprojekts der 2. Klasse handelt. Die meisten der Kerzenständer, Becher und Schüsseln würde man in dieser Form sicher nicht am Töpferstand auf dem Markt loswerden, aber sie sind alles in allem weniger schief, als man es von Achtjährigen erwarten könnte. Die begeisterten „Ahs“ und „Ohs“, mit denen die handwerklichen Kunstwerke von den vorbeischlendernden Eltern gewürdigt werden, bestätigen meine fachkundige Beurteilung. Hier war eine Gruppe von hoffnungsfrohen Nachwuchstalenten am Werk. Die örtliche Handwerkskammer sollte die Daten der Kleinen schon einmal in ihre Akten aufnehmen. Doch dann denke ich an Carinas Bastelstunde bei uns daheim und schaue mir die Tongefäße noch einmal genauer an. Die Ränder sind gleichmäßig geglättet, auf den Wänden sind keine Fingerabdrücke zu sehen und keines der Kinder scheint den Drang verspürt zu haben, lustige Muster und Formen in seine Tasse zu ritzen, um dem Machwerk einen individuellen Touch zu verpassen. Kann es sein, dass…?
Innerlich ohrfeige ich mich selbst bei dem zynischen Gedanken, dass auch dieser Teil der Ausstellung eigentlich eine Fähigkeitenshow der Lehrerin sein könnte. So zynisch können die hier nun auch wieder nicht sein, oder?
Einmal mehr suche ich den Raum nach Carina ab. Endlich kann ich sie entdecken. Sie ist direkt vor ihrem Plakat in ein Gespräch mit einem gut aussehenden jungen Mann vertieft. Angeregt tauschen sie sich über das Bild aus. Vermutlich erklärt meine Freundin dem Vater gerade, welchen herausragenden Beitrag sein Kind bei der Entstehung des Posters geleistet hat. Wow, denke ich, der ist nicht viel älter als ich und hat schon ein Kind in der dritten Klasse? Alle Achtung!
Ich beschließe, dass es keine gute Idee ist, Carina jetzt bei der Arbeit zu stören. Meine Entschuldigung kann auch noch fünf Minuten warten. Trotzdem gehe ich schon einmal langsam in ihre Richtung und bleibe vor einer Vitrine stehen, in der Weihnachtsgeschichten der Viertklässler ausgestellt sind. Die meisten der Blätter sind in Schönschrift beschrieben und mit Tannenzweigen, Kerzen und anderen kunstvollen Bildern verziert. Wenn man sich die Ergebnisse dieses Projekts so anschaut, muss einem um die Zukunft des deutschen Bildungswesens nicht bange werden. Hier wird wirklich erstklassige Arbeit geleistet. Und nicht nur das Äußerliche spricht für sich. Auch die Geschichten selbst sprühen vor Kreativität, Relativsätzen und Fremdwörtern, dass die Schwarte kracht. Einige der Kinder haben mehrseitige Bücher abgegeben. Ich komme mir vor wie in einer Hochbegabtenschule. Es sei denn – natürlich! Innerlich schlage ich mir erneut mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Da haben die Muttis aber ordentlich mit Hand angelegt.“, brumme ich halblaut.
Offenbar zu laut, denn neben mir fragt eine pikierte Stimme: „Wie meinen Sie das?“
Ich drehe mich nach links und sehe eine Großmutter, die Hand in Hand mit ihrer Enkelin vor der Vitrine steht und mir mit ihren eiskalten, blauen Augen finstere Blitze entgegenschleudert. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
„Äh, na schauen Sie sich nur mal die Kuh da im Stall an!“, sage ich und zeige auf das Bild eines Rindviehs, das den Vergleich mit den Abbildungen in Brehms Tierleben nicht scheuen müsste. „Sowas kriegt doch kein Viertklässler hin.“, meine ich spöttisch.
Die Frau wirft einen kurzen Blick auf die schwarz-weiß gefleckte Kuh. Ihre Enkelin starrt mich unterdessen hasserfüllt an. Ich kann erkennen, wie ihre Unterlippe bebt. Au weia. Bestimmt hat sie das dicke Heft mit der Stallgeschichte abgegeben. Da bin ich ja gerade an die Richtige geraten.
Die alte Frau schaut wieder zu mir. Der Schatten eines Erkennens huscht über ihr Gesicht. „Ach, Sie sind das!“, meint sie nur mit zusammengepressten Lippen und zerrt ihre Enkelin fort zu dem Keramiktisch. Mein Gehirn braucht erstaunlich kurz, um die Frau als diejenige einzuordnen, mit der ich bei unserem Lauftraining am Sonntag zusammengestoßen bin.
Verlegen schaue ich zu Carina. Sie redet immer noch mit dem jungen Vater. Irgendwie scheint es mir sehr vertrauensselig, wie sie ihre Hand auf seinen Unterarm legt. Aber was weiß ich schon von moderner Beziehungspflege zwischen Lehrern und Eltern. Die beiden biegen sich vor Lachen. Ich beschließe, dass jetzt vielleicht doch nicht der beste Zeitpunkt für meine Entschuldigung ist. Carina scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. Also mache ich mich am besten wieder aus dem Staub. Heute Abend werden wir sowieso wieder laufen gehen. Egal, wie sauer sie auf mich ist, darum werde ich nicht herum kommen. Und dann sind wir ja lange genug alleine, um den blöden Streit aus der Welt zu schaffen.
Vier Stunden und sechs Kilometer später biegen wir - ich schweißgebadet, Carina mit einem Hauch von Rot auf ihren Wangen - in unsere Straße und damit auf die Zielgerade unserer Trainingsrunde ein. Nur noch ein paar hundert Meter, dann ist eine weitere Laufeinheit absolviert. Stoisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Jetzt nur nicht schlapp machen!
Das eisige Schweigen, das sich während des Laufens zwischen uns manifestiert und mir die Möglichkeit gegeben hatte, mich ganz auf die Atmung und die Schmerzen in meinen Beinen zu konzentrieren, bricht mit einem „Was sollte das gestern eigentlich?“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen. ,Ausgerechnet jetzt?‘, geht es mir durch den Kopf. ,Wo mein Hirn sowieso gerade in einem durch Sauerstoffmangel ausgelösten Delirium über meinen Schultern schwebt? So muss sich Schwammkopf fühlen. Armer Kerl!‘ „Äh, was jetzt?“, heuchle ich schnaufend Ahnungslosigkeit.
„Was wohl?“, pariert sie mit eisiger Stimme. „Das mit deiner Tante!“
„Sie ist halt meine Tante. Du kennst doch Tante Elke.“, flüchte ich mich in Floskeln.
„Nein, ich kenne deine Tante Elke nicht.“, erwidert Carina gereizt. „Du hast uns einander schließlich nie vorgestellt.“
Das habe ich in der Tat nicht, und zwar aus gutem Grund. „Nein, das stimmt.“, gebe ich zu. „Aber ich habe dir von ihr erzählt. Du weißt doch, wie sie ist.“
„Ich wusste nicht, dass sie dich mit gebratenen Tierkadavern durchfüttert.“, lässt sie mich mit säuerlicher Miene wissen. „Ich dachte, du wärst Vegetarier.“
Ich dachte das nie, aber was habe ich denn für eine Chance? Carina ist da absolut nicht kompromissbereit. Also habe ich mein Leben darauf ausgerichtet, zu Hause kein Fleisch zu essen. Aber es ist jetzt vielleicht nicht der richtige Augenblick für eine Grundsatzdiskussion. Andererseits, wann ist der schon? Mein schwammiges Gehirn setzt für einen Moment die angeborenen Selbstschutzmechanismen außer Kraft. „Ich mag Hackbraten.“, keuche ich in einem Akt aufbegehrender Verzweiflung. „Er schmeckt lecker und gibt mir Kraft.“
Ehe ich mich‘s versehen kann, stiebt Carina davon. Durch meine schweißgetränkten Augen kann ich nur noch ihren Hintern und den Pferdeschwanz sehen, der sich in rasender Geschwindigkeit von mir entfernen.
Vor unserer Haustür erwartet sie mich stretchend und mit einem höhnischen Grinsen. „Kraft, ja?“, funkelt