Ich schaue mir die unförmigen Bäume und lieblos ausgemalten Sterne in den Ecken des Bildes an. Nein, die allein wären in der Tat kein erbaulicher Anblick für die Eltern zukünftiger Firmenchefs und Nobelpreisträger. Sicherheitshalber verkneife ich mir jeden Kommentar.
Carina schaut auf die kitschige Zinnuhr, die wie ein Fremdkörper zwischen den Leitzordnern und den Romanen in unserem Billy-Regal steht. „Oh je. Komm! Wir müssen los!“
Panisch starre ich sie an. Schon beim Gedanken an Bewegung tut mir jeder Muskel im Leib weh. Die Tage des Trainings sind ja noch einigermaßen auszuhalten, aber an denen danach erinnert mich ein scheußlicher Muskelkater in allen mehr oder weniger entlegenen Gegenden des Körpers daran, welche Folter ich meinem armen Körper zugemutet habe. Und heute ist ein Tag danach. „Wohin?“
„Die Demonstration?“, erinnert mich Carina mit fragendem Unterton.
„Demonstration?“, tue ich scheinheilig.
„Gegen die Tiertransporte?“ Ihre Stimme wird dringlicher.
Ergeben hebe ich die Hände. Ich weiß, dass ich sowieso nicht aus der Nummer herauskomme. Und sie weiß es genauso gut. Also erspare ich uns die Zeitverschwendung einer mühseligen Diskussion und füge mich in mein Schicksal. Auch wenn mir schon beim Aufstehen bewusst wird, welch großes Opfer ich mit der Teilnahme an dieser Demonstration für unsere Liebe bringe. Ich werde Carina bei Gelegenheit daran erinnern.
3
„Papa, das war rot!“ Elkes Hand verkrampft sich um den Türgriff. Mit beiden Füßen betätigt sie die imaginäre Bremse unter dem Handschuhfach. Zum Glück ist das Bodenblech stabil genug. Mit dem Kraftaufwand, der aus ihren Oberschenkeln heraus auf die Beine wirkt, hätte es sie nicht gewundert, wenn sie wie Fred Feuerstein eine lupenreine Bodenbremsung hingelegt hätte.
„Quatsch! Das war nie und nimmer rot!“, ätzt ihr Vater auf dem Fahrersitz neben ihr und schüttelt das schüttere graue Haar.
„Natürlich war das rot!“, widerspricht ihm Elke. „Ich habe es ganz deutlich gesehen.“
„Als ich zuletzt hingeschaut habe, war es hellgelb. Und weil ich der Fahrer bin, zählt, was ich gesehen habe.“, würgt ihr Vater die Diskussion ab und tritt ordentlich aufs Gas, um eine knallrote Vespa zu überholen. „Würde ja noch fehlen, wenn wir hinter dem herzuckeln müssten.“, knurrt er und schert kurz vor dem entgegenkommenden Bus wieder auf seine Spur ein.
Elke hält für einen Moment die Luft an. Erinnerungen an unzählige solcher Situationen werden in ihr wach. Früher hatte sie sich gern eingebildet, dass dann immer der Film ihres Lebens im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge vorbeigelaufen sei, aber nach zu vielen Wiederholungen verliert selbst der spannendste Thriller seinen Reiz. Inzwischen hat sie sich angewöhnt, einfach die Luft anzuhalten und darauf zu vertrauen, dass ihre Schutzengel in Zusammenarbeit mit denen ihres Vaters schon irgendwie ihrer Aufgabe Herr werden.
Ihr Vater kneift die Augen eng zusammen und beugt sich angestrengt über das Lenkrad.
„Bist du sicher, dass du noch Auto fahren solltest?“, spricht Elke ein heikles Thema an, dass ihr in letzter Zeit immer häufiger auf der Seele brennt. Ihr Vater kann kaum noch laufen. Im Altenheim wird er für gewöhnlich mit einem Rollstuhl herumgefahren, der auch heute im Kofferraum des Mercedes liegt, aber das Autofahren will er nicht lassen.
„Ich bin doch kein Tattergreis!“, brüllt er und schlägt wütend auf das Lenkrad. „Hier kriegt mich keiner raus!“ Ruckartig streckt sich sein Rücken und sein Gesicht verzerrt sich zu einer wütenden Fratze. „Siehst du das da?“, keift er und zeigt mit seinem mageren Zeigefinger auf einen Radfahrer, der gemächlich auf dem Fußweg neben der Straße dahinrollt. „Dem sollten sie den Führerschein entziehen. Und das Fahrrad. Wenn jetzt eine alte Frau aus einem Haus kommt, rast der die garantiert über den Haufen. Und dabei gibt es sogar einen Radweg.“
Nachdenklich betrachtet Elke den schmalen roten Streifen zwischen Gehweg und Straße, der vom Verkehrsamt vermutlich als eine Art Balancetraining für Radfahrer ausgezeichnet wurde. „Aber Papa!“, wendet Elke ein. „Er ist doch...“
„Ein Rowdy. Genau!“, schimpft ihr Vater weiter. „Die dürfen mit ihren Rädern überall herumkurven und die Fußwege unsicher machen, aber uns alten Leuten wollen sie die Autos wegnehmen, so dass wir nur noch im Pflegeheim herumsitzen und auf den Tod warten können und keiner uns mehr sehen muss. Ha!“, lacht er mit keckernder Stimme auf. „Nicht mit mir! Nicht mit dem alten Ackermann!“
Drohend hebt er den Zeigefinger, während er mit Schwung rechts abbiegt, ohne auf den Radfahrer zu achten, der sich von hinten nähert. Rasant beschleunigt er aus der Kurve und rast die leere Straße entlang Richtung Fußgängerzone.
„Papa! Hier ist dreißig!“, erinnert ihn Elke und tupft sich die Schweißperlen von der Stirn.
Ihr Vater schnaubt abfällig. „Ich stör doch keinen. Wenn hier Gegenverkehr wäre, würde ich ja langsamer fahren, aber so ist doch genug Platz.“, rechtfertigt er sich.
„Und wenn jemand plötzlich ausparkt?“, hakt Elke nach.
„Muss er eben aufpassen.“, besserwissert ihr Vater, ohne vom Gas zu gehen.
Elke verzichtet darauf, dass das ja auch für die alte Frau, die aus dem Haus tritt und nicht vom Radfahrer überfahren werden will, gelten würde. Sie weiß aus Erfahrung, dass sie diese Diskussion verlieren würde. „Was ist denn das?“, fragt sie stattdessen und zeigt auf die Menschenansammlung, die weiter vorn am Eingang zur Innenstadt zu sehen ist.
„Werden wir ja gleich sehen.“, ruft ihr Vater und hält mit grimmigem Gesicht und eisernem Griff um das Lenkrad auf die schnell größer werdenden Leute zu.
„Max, was machst du denn da?“
Müde drehe ich den Kopf und blicke Carina ins Gesicht, die sich genervt vor mir aufgebaut hat. Mein Blick muss tausend Fragezeichen durch die Luft geworfen haben, denn sie schiebt direkt nach: „So, wie du hier gegen den Laternenmast gelehnt stehst, sieht es eher aus, als wärst du besoffen. Da glaubt doch keiner, dass du hier mit uns für die gute Sache demonstrierst.“
,Ja, das sieht nicht nur so aus.‘, schießt es mir durch den Kopf, aber ich werde einen Teufel tun, und ihr das ins Gesicht sagen. Schließlich ist der ganze Vegetarierkram ihre Herzensangelegenheit, da lässt sie nicht mit sich reden. Bewusst lässig drücke ich mich von meiner Stehstütze ab und schlendere ein paar Schritte zu der etwa zwanzig Leute zählenden Gruppe, die vor dem Eingang des Rewe-Marktes lautstark herumbrüllt und selbstgebastelte Pappschilder in die Höhe reckt. „Fleisch macht weich! Quark macht stark!“, ist einer der Ohrwürmer, die wir immer wieder skandieren. Carina gibt mit einem Megaphon den Ton an, wir anderen quieken ihr die Sprüche nach. „Sojasteak macht Menschen froh, und die Tiere ebenso.“, singt es um mich herum.
„Was ist denn heute mit dir los, Max?“, faucht Carina mich an. Ich bin froh, dass sie das Megaphon dabei ausgestellt hat. Hätte ich ihr in ihrer Begeisterung gar nicht zugetraut. „Du bist ja überhaupt nicht bei der Sache. Kannst du mal ein bisschen lauter mitrufen?“
Ich nicke Zustimmung heuchelnd und fülle meine Lungen vorsorglich mit reichlich Luft. Eigentlich ist mir überhaupt nicht nach Demonstrieren und ich glaube auch nicht, dass auch nur einer der vielen Kunden, die an uns vorbei durch die Supermarkttür gehen, wegen ein paar krakeelenden Studenten auf sein Feierabendschnitzel oder die Fleischwurst zu den Nudeln verzichten wird, aber eine Aufwand-Nutzen-Abwägung bringt mich schnell zu dem Ergebnis, dass ein Mitmachen eindeutig weniger Kraft kostet und mir mehr freie Zeit am Abend ermöglicht, als ein stundenlanges Agitationsgespräch, bei dem mir Carina die Vorteile ihrer eingeschlagenen Strategie bis ins kleinste Detail auseinandernimmt.
„Max!“, brüllt Carina mich an. ,Was ist denn nun schon wieder? Sie hat doch noch gar nichts gerufen.‘, wundere ich mich. Ihre weit aufgerissenen Augen blicken entsetzt über meine Schulter, aber das kann natürlich auch nur eine optische Täuschung sein. „Weg da!“ Ehe ich die Situation angemessen analysieren kann, springt meine