Wer möchte, biegt vom Richardplatz in die Kirchhofstraße ein und besucht den Böhmischen Gottesacker, der zu den ältesten heute noch genutzten Begräbnisstätten in Berlin gehört und ebenfalls viel über die Geschichte des Böhmischen Dorfes verrät, z.B. durch die Inschriften auf den alten Grabsteinen, die zum Teil noch auf Tschechisch sind.
Von der Kirchhofstr. biegen wir wieder in die Karl-Marx-Str. ein und zwar nach rechts in Richtung U-Bahnstation Karl-Marx-Straße. In der Karl-Marx-Str. 135 befindet sich das Puppentheater-Museum I. Ein Besuch dort ist ein besonderes Vergnügen für Kinder und Erwachsene. Hier erklärt Hausgeist Manfredi seinen Gästen, warum er so blutunterlaufene Augen hat und was zur Geisterstunde so alles los ist in seinem Museum. Ein kniehohes Teufelchen mit Pferdefuß stellt vorwitzige Fragen und Pinocchio lädt die Besucher zu Turnübungen ein. Die Puppenspielerinnen und Theaterpädagoginnen machen mit ihrer Begeisterung und Liebe zum Puppenspiel den Besuch zu einem Erlebnis und, überhaupt, ist man in guter Gesellschaft von Frau Holle, Paganini, Dr. Faustus und vielen anderen. Spätestens wenn man selber versucht hat, eine Marionette zu führen, wird klar, warum man mindestens acht Semester an der Hochschule für Bühnenkunst studiert haben muss, bis man es zum diplomierten Puppenspieler gebracht hat …
Besonders beliebt sind übrigens die Taschenlampenführungen für Kindergruppen, zu denen man sich aber auch mit eigenen Kindern oder Enkeln anmelden kann.
Nun sind wir nur noch ein paar Schritte von der U-Bahn Karl-Marx-Straße J entfernt, wo unser Spaziergang endet.
Neukölln hat noch viel mehr zu bieten. Ein paar U-Bahnhaltestellen weiter Richtung Britz z.B. kann man Wohnsiedlungen der klassischen Moderne wie die Rote Zeile oder die berühmte Hufeisensiedlung besuchen und sich durch eine Originalwohnung aus den 20er Jahren führen lassen. Gleich in der Nähe gibt es seit September 2013 einen prächtigen, farbenfrohen Hindutempel, in dem auch Andersgläubige sehr willkommen sind. Aber das ist schon wieder ein anderer Spaziergang …
Info: Zur Geschichte des Böhmischen Dorfes
Früher hieß Neukölln „Rixdorf“. Hier eine kurze Geschichte der Dörfer Böhmisch-Rixdorf und Deutsch-Rixdorf, dem Herzen des heutigen Neukölln:
Richardsdorp – Rieksdorf - Rixdorf war schon im 14. Jahrhundert ein kleines Dorf im Umland von Berlin. Von Neukölln konnte damals noch keine Rede sein. Ursprünglich befand sich dort ein Hofgut des Johanniterordens, das 1360 durch Gründungsurkunde Dorfstatus bekam (Richardsdorf). Die Johanniter verkauften ihr Dorf 1435 an die gemeinsame Kämmereiverwaltung der Schwesternstädte Berlin und Cölln (= Keimzelle des heutigen Berlin, um die Fischerinsel herum). 1543 ging es in den alleinigen Besitz von Cölln über. Das Leben in dem kleinen Dorf war beschaulich, die meisten Einwohner waren Bauern.
1737 trafen die ersten Glaubensflüchtlinge aus Böhmen ein. Die böhmischen Herrscher und Könige waren meist katholisch und nicht so tolerant in Glaubensdingen. Deswegen wurden Menschen, die dem Reformator Johann (auch: Jan) Hus folgten (Hussiten) und sich zum Protestantismus bekannten, verfolgt. Zunächst fanden sie Zuflucht in Herrnhut in der Lausitz auf den Gütern des Grafen von Zinzendorf, einem Freund des Königs Friedrich Wilhelm I. („Soldatenkönig“ und Vater Friedrichs des Großen). Schon bald benötigte man mehr Siedlungsraum für diese Herrnhuter Protestanten und der König ließ den Flüchtlingen aus Böhmen und Mähren Siedlungen bauen, von denen heute aber nur noch das Böhmische Dorf in Berlin-Rixdorf existiert. Die ersten ca. 200 Glaubensflüchtlinge, die 1737 in Rixdorf ankamen, waren Bauern und Handwerker. Die Neuankömmlinge brachten ihre Sprache, ihre Kultur und ihren Glauben mit. Bis heute leben hier die Nachfahren folgender drei evangelischer Bekenntnisse: die Herrnhuter Brüdergemeinde, die Reformierte Kirche und die Lutherische Kirche.
Friedrich Wilhelm I. erkannte schon damals, dass die eigentliche Ressource seines Landes die Menschen mit ihren Fähigkeiten waren. Das bewog ihn dazu, nach den Katastrophen der Vergangenheit (Dreißigjähriger Krieg, Pestepidemie, Hungersnöte etc.) eine Peuplierungspolitik einzuleiten, die den Flüchtlingen ein kostbares Gut, nämlich Glaubens- und Gewissensfreiheit, garantierte und ihren Fleiß, ihre Tatkraft und ihre Fähigkeiten nutzte, um Ackerbau, Handwerk und Handel voranzutreiben.
1753 baute die böhmische Brüdergemeinde in der Kirchgasse 5 ein Bethaus, das auch als Schule diente. Bis 1907 wurde dort unterrichtet. Heute sind in dem idyllischen Haus Privatwohnungen und seit 2005 auch das Museum im Böhmischen Dorf; ein kleines, sehenswertes Heimatmuseum mit interessanten Exponaten und sehr netter, kompetenter und engagierter Führung, natürlich von Nachkommen dieser ersten Rixdorfer Böhmen.
Um 1800 setzte sich der Name „Rixdorf“ statt „Richardsdorf“ durch. Böhmisch-Rixdorf und Deutsch-Rixdorf wurden 1874 zusammengelegt, vorher waren sie zwar in unmittelbarer Nachbarschaft, jedoch brauchtumsmäßig, kulturell und verwaltungstechnisch getrennt gewesen. Bis ca. 1820/30 war die Hauptumgangssprache im böhmischen Teil von Rixdorf noch Tschechisch.
Mit der fortschreitenden Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchsen die umliegenden Dörfer immer enger mit der Metropole Berlin zusammen und im Zuge dieser Entwicklung löste sich schließlich die Kultur und Sprache der Einwanderer in der Mehrheitskultur auf, bis auf die historischen Reste, die wir heute im Böhmischen Dorf von Neukölln besuchen.
Seinen landwirtschaftlichen Charakter verlor Rixdorf ebenfalls in dieser Epoche: die 14 ortsnahen Mühlen auf den Rollbergen, einst Wahrzeichen von Rixdorf, mussten der Kiesgewinnung weichen. Den Kies hatten die Gletscher der letzten Eiszeit dorthin gerollt und die findigen Bauern erkannten, dass man mit Kies mehr „Kies“ machen konnte als mit Windmühlen: zuerst wurde er als Baumaterial an die aus allen Nähten platzende Metropole Berlin verkauft, danach das Bauland veräußert, so dass in großem Maße vorstädtische Arbeitersiedlungen gebaut werden konnten, die Vorläufer der Mietskasernen.
In den sanften Steigungen der Rollbergstraße sieht man übrigens heute noch letzte Reste des Neuköllner Rollbergs.
In den Mietshäusern sah es finster aus: oft hausten 10- bis 12-köpfige Familien in winzigen Wohnungen, die in vielen Fällen auch noch an sogenannte Schlafburschen oder Bettgänger untervermietet wurden, so dass die Betten rund um die Uhr belegt waren, um die Mieten aufzubringen. Es erübrigt sich zu sagen, dass die sanitären Bedingungen katastrophal waren: winzige Plumpsklos im Hof für alle!
1899 wurde Rixdorf zur kreisfreien Stadt und durch seine Nähe zur Metropole zur Arbeiterschlafstadt für die Berliner Betriebe. 1908 wurde unter Architekt und Baustadtrat Reinhold Kiehl ein neues Rathaus erbaut, ein repräsentativer Prachtbau, der eher das Selbstbewusstsein der Kiesbarone und Fabrikbesitzer widerspiegelte als das Lebensgefühl der Arbeiterschaft.
Mit der rasch wachsenden Bevölkerung entwickelten sich in Rixdorf auch viele Amüsierbetriebe (Biergärten, Ballsäle, Tanzlokale, Kneipen, Bordelle, Rummel …), so dass Rixdorf bald zum Synonym für billiges Vergnügen und sittenloses Treiben wurde. Aus dieser Zeit stammt auch der beliebte Schlager „In Rixdorf ist Musike …“ Als der Ruf endgültig ruiniert war, fand man, dass es an der Zeit war für eine Namensänderung. 1912 wurde mit Erlaubnis des Kaisers Wilhelm aus Rixdorf Neukölln, was auf die Beziehung zur alten Berliner Schwesternstadt Cölln verweist (und nicht etwa auf Köln am Rhein!)
Politisch war die alte Arbeiterhochburg Neukölln eine Heimat der Linken. 1918 dankte der Kaiser ab, die Republik wurde ausgerufen und in Neukölln konstituierte sich im Winter 1918/19 für wenige Wochen ein Arbeiter- und Soldatenrat nach Vorbild der Russischen Revolution.
1920 schließlich wurde Neukölln inklusive Britz, Rudow und Buckow zum 14. der zwanzig neuen Verwaltungsbezirke Groß-Berlins.
Die turbulenten 20er Jahre brachten dem frischgebackenen Bezirk Neukölln in mancher Hinsicht Wandel und Veränderung:
• Urbanisierung: 1927 wurde mit dem U-Bahnhof Hermannplatz ein zentraler Verkehrsknotenpunkt geschaffen, der die Infrastruktur entscheidend verbesserte. Der U-Bahnhof wurde übrigens Ende der 80er Jahre originalgetreu restauriert. 1929 bekam Neukölln mit „Karstadt am Hermannplatz“ Europas größtes und modernstes Kaufhaus.