„Raue Sitten“, meinte Cantrell und ging zur Terrassentür. „Ich nehme diesen Weg.“
„Ist es nicht besser, wenn ich mitkomme?“
„Der Kerl, falls es ein Mann war, ist längst über alle Berge“, sagte Cantrell. „Bleibe lieber im Haus und kümmere dich um die Kleine. Ich überlasse es dir, ob du die Polizei verständigst oder darauf verzichtest. Aber lasse es mich wissen, bitte, und rufe mich an, sobald es Neues gibt.“
Wenige Minuten später war Cantrell mit seinem Wagen bereits unterwegs. Er achtete darauf, dass ihm niemand folgte und stoppte kurz darauf in der Tiefgarage des Hauses Allersby Road 41. Der erst kürzlich bezogene Wohnturm hatte 29 Etagen. Cantrell fuhr mit einem der Lifts in die 9. Etage, wo Gloria ein Zwei-Zimmer-Apartment bewohnte. Obwohl er den Schlüssel für das Apartment bei sich hatte, hielt er es für klüger, erst einmal zu klingeln.
In der Diele ertönten Schritte, die Tür öffnete sich. Auf der Schwelle zeigte sich ein etwa zwanzigjähriges, sehr attraktives Mädchen. Es hatte rotblonde Haare, tiefblaue Augen und einen Schmollmund. Zudem verfügte Cantrells Gegenüber noch über den Kurvenreichtum einer B. B. „Hallo“, sagte sie.
„Ich bin Tony Cantrell“, sagte er. „Darf ich eintreten, bitte?“
Sie starrte ihm verdutzt ins Gesicht. „Tony Cantrell? Was wollen Sie hier?“
„Ich möchte zu Gloria.“
„Sie ist nicht zu Hause.“
„Das habe ich befürchtet. Rocco hat mich gebeten, etwas über Glorias Verbleib herauszufinden.“
„Oh“, sagte das Mädchen. Mehr nicht.
„Sie sind Glorias Freundin?“
„Ja, so kann man es nennen.“
„Wäre es vermessen, sich nach Ihrem werten Namen zu erkundigen?“
„Oh, habe ich vergessen, ihn zu nennen?“, fragte sie. „Ich bin Marsha.“
Sie war nervös, sogar sehr nervös. Cantrell hatte das sichere Gefühl, dass sie nicht allein in der Wohnung war, und er wünschte herauszufinden, was sie hier wollte, und mit wem sie hergekommen war. „Darf ich eintreten?“, wiederholte er.
„Ich weiß nicht recht. Sie haben mir zwar Ihren Namen genannt, aber ich kenne Sie nicht und wüsste gern, ob...“ Sie unterbrach sich.
Cantrell wandte den Kopf und folgte ihrem Blick. Schräg hinter ihm glitt die Metalltür des Fahrstuhls zur Seite. Ein Mann mit einer braunen Einkaufstüte unterm Arm verließ den Lift, kam geradewegs auf sie zu, blieb stehen und fragte: „Was gibt’s?“
„Das ist Mr. Cantrell“, sagte Marsha hastig. Sie wirkte erleichtert, schaffte es aber trotzdem nicht, ihre Nervosität abzulegen. „Er ist von Mr. Grandini beauftragt worden, sich um Gloria zu kümmern, um ihr Verschwinden.“
Der Mann grinste. Er war knapp dreißig und hatte ein markantes Gesicht mit großporiger Haut und dunklen, tiefliegenden Augen. Bekleidet war er mit Jeans, Rollkragenpullover und ledernem Lumberjack. Trotz der saloppen Aufmachung war zu erkennen, dass seine Sachen nicht aus dem Kaufhaus stammten, sie waren teuer gewesen und zeigten die Klasse rustikaler Eleganz.
„Ah, Mr. Cantrell“, sagte der Mann. „Sie sind mit Rocco befreundet?“
„So kann man es nennen. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Marshas Freund. Nennen Sie mich einfach Luigi. Kommen Sie ruhig herein, wie Sie sehen, habe ich ein paar Dinge für den Kühlschrank besorgt. Trinken Sie ein Glas Bier mit uns, Mister? Ein Scheißwetter ist das draußen, wirklich! Manchmal frage ich mich, warum ich in Chicago bleibe. Ich kenne keine Stadt in diesem Land, die ähnlich kalt, windig und unfreundlich ist...“
Er war während des Sprechens über die Schwelle getreten, das Mädchen und Cantrell folgten ihm ins Wohnzimmer. Luigi stellte die Tüte auf dem Tisch ab und schaute sich prüfend um. Es war zu sehen, dass Rocco in Glorias Wohnung eine Menge Geld investiert hatte. Die Einrichtung war von ultramodernem Zuschnitt und wusste durch Harmonie von Farben und Formen zu gefallen.
„Sehen Sie mal, was ich hier mitgebracht ha...“, begann Luigi und griff in die Tüte, aber er kam nicht mehr dazu, den Revolver in Anschlag zu bringen, den er auf diese Weise ins Freie befördern wollte. Cantrell hatte so etwas erwartet, das Verhalten der beiden war einfach zu verdächtig gewesen, um dabei gelassen bleiben zu können. Sein harter, gezielter Handkantenschlag traf genau. Der Mann stieß einen Schrei aus, seine Waffe flog im hohen Bogen durch die Luft und krachte dann gegen den Plastikfuß des weißen Fernsehgerätes.
Luigi stand wie erstarrt. Er brauchte gut eine Sekunde, um zu begreifen, dass er sich mit einem Gegner eingelassen hatte, der ernst zu nehmen war. Dann griff er an, mit beiden Fäusten.
Cantrell praktizierte einen zweiten Karateschlag. Luigi ging zu Boden.
Cantrell bückte sich nach dem Revolver. Es war wichtig, ihn dem Zugriff des Mädchens zu entziehen. Luigi wälzte sich auf die Seite, stemmte sich langsam hoch, und schüttelte dabei benommen den Kopf.
Cantrell schnupperte an der Waffenmündung. Der Revolver war in letzter Zeit nicht benutzt worden.
Marsha stand an der Buchwand, mit weit aufgerissenen Augen. Sie atmete mit halboffenem Mund und versuchte zu begreifen, weshalb es Luigi, ihr Idol, auf so unbegreifliche Weise erwischt hatte. Mit zwei Schlägen, deren Nachwirkung sich selbst jetzt noch in einer leichten Glasigkeit seines Blickes offenbarte.
Luigi lehnte sich an die Wand, sein Blick klarte auf, er wurde hart und war von jähem Hass erfüllt.
„Nun mal langsam, mein Junge“, sagte Cantrell. „Du wolltest mich also mit dieser Kanone beeindrucken. Eine hübsche Idee. Nur wüsste ich gern, wie sie zustande gekommen ist, und was dahintersteckt. Vor allem möchte ich erfahren, was aus Gloria geworden ist!“
„O Gott“, sagte Marsha. In ihren Knien schien ein Klappmechanismus mobil zu werden, sie musste sich plötzlich setzen.
Cantrell schaute sie an. Er sah die Angst in ihren Augen und ahnte, dass sie zum ersten Mal in ein krummes Ding verwickelt wurde. Mit Luigi war das etwas anderes. Er machte den Eindruck, als sei er mit der Kriminalität schon vertrauter, als stünde er mit ihr auf du und du.
„Du hältst die Schnauze!“, herrschte Luigi das Mädchen an und stellte damit klar, dass er als Sprecher aufzutreten wünschte.
„Wo ist Gloria?“, fragte Cantrell und spielte mit dem Revolver. Das Schnappen des Hahns erwies sich dabei als eine Begleitmusik, die Luigis Nerven keineswegs guttat.
„Woher sollen wir das wissen?“, fragte Luigi.
„Ich kann die Polizei rufen“, sagte Cantrell.
„Dann tun Sie’s doch!“, meinte Luigi. „Sie können uns nichts am Zeug flicken. Wir sind hergekommen, um Gloria zu helfen, um auf sie zu warten...“
„Wann haben Sie mit ihr gesprochen?“
„Heute morgen, am Telefon.“
„Was wollte sie von Ihnen?“
„Sie sagte mir, wie und wo ich den Schlüssel zu ihrer Wohnung finden könne. Sie bat mich, hier zu übernachten. Gloria wollte, dass ich die Stellung halte, notfalls mit Waffengewalt. Das hat sie wörtlich gesagt. Deshalb brachte ich die Kanone mit. Gloria sprach sehr schnell, sie hatte Angst, glaube ich“, behauptete Luigi.
„Warum kommt sie nicht nach Hause?“
„Das habe ich sie auch gefragt, aber sie wollte mir keine Erklärungen geben, es schien, als stünde sie unter Zeitdruck“, sagte Luigi.
„Woher kennen Sie das Mädchen?“
„Wir sind Jugendfreunde.“
„Warum hat sie nicht mit Rocco gesprochen?“
„Sie wird ihre Gründe gehabt haben.“