»Liebste Mama«, sagte ich und bückte mich, um ihr die Hand zu küssen.
Aber sie zog mich an sich und küßte feierlich meine Stirn. »Was man auch gegen die Strammins einwenden kann«, sagte sie dann, »in schwierigen Lagen hat ein Strammin immer gewußt, was ihm seine Ehre gebot. Und ein Lassenthin auch«, setzte sie hinzu, denn Mama ist eine geborene Lassenthin, woran ich in den nächsten Tagen noch mehrfach eindringlich erinnert werden sollte.
»Und nun«, fuhr Mama mit einem jener plötzlichen Übergänge fort, die sie so liebt, und zog mich direkt vor Fräulein Thibaut, »sehen Sie nach, Madeleine, ob Lutz auch völlig comme il faut ist. Ich will doch, daß er in Stralsund gute Figur macht.«
Ich fühlte, daß ich unter dem hellen, musternden Blick der »Eidechse« rot wurde. Dieses Frauenzimmer hat lange, geschlitzte Augen, und sie kann mich damit so schamlos ansehen, daß ich einfach rot werden muß. Jetzt sah sie mich von unten bis oben an, als sei ich nur ein Haubenstock, kein junger Mann. Ich trug lacklederne Reitstiefel vom besten Schuster in Berlin, die wie angegossen saßen, eine schwarz-weiß-karierte Reithose und eine Joppe aus blaugenoppter schottischer Wolle – ich sah wie ein Prinz aus.
»Gestatten Sie, junger Herr«, sagte die Thibaut, stellte sich auf die Zehen und fing an, meinen Schlips aufzubinden. »Ich würde binden die Scarf un peux plus légère.«
Ich bin überzeugt, die Schleife saß völlig richtig, sie wollte mir nur am Halse herumfummeln, so nahe an mir stehen, daß sie mich berührte. Nun hatte sie noch die Frechheit, mir zwischen den Lippen geschwind ihre Eidechsenzunge zu zeigen. Kein Mensch weiß, was ein junger Mann von Familie auch auf dem Lande für Nachstellungen zu erdulden hat. »Machen Sie endlich Schluss mit dem Gefummel!« rief ich zornig und machte mich los. »Meine Schleife saß ausgezeichnet.«
»Comme il est ravissant!« rief Madeleine und klatschte in die Hände. »Le vrai Parsival! Toutes les jeunes filles à Stralsund sick werden verlieben.«
»Jawohl, in meine Sommersprossen!« rief ich ärgerlich, und dann nahm ich endgültig Abschied von Mama. Sie küßte mich noch einmal, diesmal auf den Mund; ich weiß, Mama ist stolzer auf mich, als es je ein Mensch auf der ganzen Welt sein kann.
Papa brachte mich noch einige Schritte. Ich hatte die Zügel des Alex über meinen Arm gestreift und hörte mit einiger Ungeduld seine neuerlichen Ermahnungen an: Ich solle keinesfalls den Weizen auf das Schiff lassen, ehe ich nicht das Geld für ihn in der Tasche hätte. Ich solle nicht unter Deck gehen und mit dem Kapitän trinken. Ich solle, wenn mir irgend etwas zweifelhaft erschiene, lieber dreißig Mark Mehrgewinn pro Tonne schießen lassen und zu unserm alten Getreidehändler Kalander gehen: »Obwohl wir jede Mark so nötig wie das liebe Brot brauchen.«
»Lieber Papa«, sagte ich energisch, löste meinen Arm aus dem seinen und stieg auf den Alex, »seit ich lebe, höre ich dies Gerede von der unentbehrlichen Mark. Und dabei haben wir noch immer recht hübsch gelebt, wir und unsere Leute auch. Ich werde die Sache so gut regeln, wie ich kann, und wird doch was falsch, so werden wir genauso weiterleben wie vorher. Du wirst abends deinen Rotsporn trinken und über die schlechten Zeiten stöhnen. Gott befohlen, und grüß die Mama noch schönstens.«
Damit gab ich Alex den Kopf frei und ließ Papa stehen, wo er stand. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte jetzt allmählich den Bauch voll Zorn von all diesem Geschwätz. War der Handel mit dem schwedischen Käptn wirklich so gefährlich, so hätte ihn Papa nicht abschließen dürfen, jedenfalls hätte er selber mitreiten können. Aber so war Papa immer: am liebsten setzte er alles auf eine Karte, und ging es dann schief, weinte er allen Leuten die Ohren voll.
Natürlich konnte nicht die Rede davon sein, daß ich ernstlich auf Papa böse war. In ganz Vorpommern einschließlich Insel Rügen gab es keinen besseren und großzügigeren Papa. Aber er hatte eben auch die Schattenseiten der Großzügigkeit, er war, was man so »leichtes Tuch« nennt, und da ich von Mama her ziemlich viel von den Lassenthins abbekommen habe, die sehr genaue Leute sind (wie genau, sollte ich noch heute erfahren), ärgerte mich das manchmal.
Aber der schöne, junge Junimorgen, die Vögel, die noch so eifrig in meines Vaters Park lärmten, der Himmel voller Sonne – all dies und am allermeisten meine frische Jugend vertrieben diesen kleinen Ärger sofort. Ich rückte mich behaglich im Sattel zurecht und wollte eben den Alex zu einem munteren Trabe ausgreifen lassen, als ganz überraschend aus einem Busch eine Gestalt mir in den Weg trat. Der Alex machte einen Satz. »Hoho, Alex!« rief ich und klopfte ihm beruhigend auf den Hals. Und zu Madeleine Thibaut: »Schon wieder Sie! Ich begreife nicht, wie Sie so schnell hierhergelaufen sein können. Aber ganz egal – ich habe genug von Ihnen, von Ihrem Schleiferichten und Zungezüngeln. Fort mit dir, Alex!«
Und ich gab dem Gaul die Sporen, aber nur sachte.
»Jungherr!« rief die Thibaut hinter mir. »Lutz, ich brauche Ihre Hilfe!«
Auf diesen in ganz richtigem Deutsch gerufenen Notschrei parierte ich den Alex noch einmal. Denn die Madeleine beherrscht die deutsche Sprache vollkommen, und nur in ihren übermütigen Stunden gefällt sie sich in einem Radebrechen, das Mama höchlich amüsiert, mich aber gar nicht.
»Meine Hilfe?« fragte ich erstaunt. »Worin kann ich Ihnen wohl helfen, Madeleine?«
»Indem Sie dieses Päckchen in die Hände von Professor Arland vom Königlichen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Stralsund geben«, sagte Madeleine und gab mir ein weiß eingewickeltes Paketchen, das mit einem himmelblauen Bande umschlungen war. Ich nahm es unwillkürlich. »Sie müssen es ihm aber selbst geben, keiner darf zugegen sein, und Sie müssen erreichen, daß er es noch in Ihrer Gegenwart öffnet.«
»Das ist ein seltsamer Auftrag, Madeleine«, sagte ich unschlüssig und befühlte das Paketchen. Es war leicht, es fühlte sich an, als seien Papiere darin, Briefe. »Ich kenne Professor Arland gar nicht.«
»Er aber kennt Sie. Oder er glaubt Sie zu kennen!« rief Madeleine heftig. »Und er glaubt, ein Recht zu haben, eifersüchtig auf Sie zu sein. Sehen Sie, Lutz, in diesem Päckchen sind alle Briefe, die er mir geschrieben hat, und wenn ich sie ihm nun durch Sie zurückschicke und er sieht Sie selbst, Sie verstehen mich, Lutz –?«
Ich dachte, das Päckchen noch immer in Händen, nach. »Wenn ich aber Ihren Boten in dieser seltsamen Sache abgebe, Madeleine«, sagte ich dann, »so stehe ich doch gewissermaßen für Sie ein. Und wenn Herr Professor Arland auch unrecht tut, mir zu mißtrauen, so werden Sie doch zugeben müssen, daß Sie manchmal etwas freigebig mit den Blicken Ihrer Augen, mit Ihrem Eidechsenzüngeln und – vielleicht – auch mit Ihren Küssen sind, Madeleine?«
»So, bin ich das?« rief Mademoiselle Thibaut, jetzt wirklich zornig. »Aber wir sind, gottlob, nicht alle trockene, pedantische pommersche Jungherren mit Fischblut in den Adern. Wir freuen uns an der Welt und an jeder guten Stunde und sehen einen Kuss für keine Sünde an. Aber, Lutz«, fuhr sie ruhiger und doch viel ernsthafter fort, und das elfenbeinfarbene Gesicht mit den geschlitzten Augen sah jetzt beinahe schön aus, »ich bin gar nicht sicher, daß nicht auch einmal Ihre Stunde schlägt, und dann werden Sie froh sein, wenn es nur mit einem Augenblitz und einem Kuss abgegangen ist. Da werden Sie verstehen, daß ein Herz treu sein kann, auch wenn der Mund einmal untreu ist.«
»Nun schön, Madeleine«, antwortete ich, nur halb überzeugt. »Ich kenne Sie nun fast drei Jahre, und ich weiß, daß Sie trotz allem welschen Firlefanzes ein gutes Mädchen sind.«
»Kommen Sie her, Lutz!« rief sie. »Bücken Sie sich ein wenig.« Und als ich ihr ganz überrascht den Willen tat, warf sie mir die Arme um den Nacken und küßte mich drei-, viermal auf den Mund. »So, und nun reiten Sie los, Lutz, und erzählen Sie dies dem Marcellin Arland, und wenn ihn das nicht von Ihrer Harmlosigkeit überzeugt, so soll ihn der Teufel