Inzwischen war der Daumen wieder verheilt, doch hatte Yxick auch heute keine Lust, mitzuspielen, und ließ sogar das Fenster geschlossen. Stattdessen betrachtete er lieber das Stoffarmband, das er um das rechte Handgelenk trug und nur sehr selten ablegte und in das ein paar dunkelblaue Perlen eingewebt waren.
Werfen allerdings übte er grundsätzlich gerne, traf mittlerweile mit Darts-Pfeilen oder kleinen Bällen vom Fenster aus ganz gut die Äste der Birken draußen, hatte aber momentan auch dazu keine Lust.
Ob er ein Buch lesen, eine Schallplatte auflegen oder mit Fischertechnik spielen sollte?
Ehe er sich aber entscheiden konnte, wurde er von seiner Mutter ins Wohnzimmer gerufen.
In Westberlin, inmitten von mehrstöckigen grauen Mietshäusern, stand eine Grundschule. Hier hatte vor ein paar Wochen der Unterricht wieder begonnen.
Das Wetter verhielt sich an diesem Tag regnerisch – war man kaum noch gewohnt, sonst herrschte in diesem September vielfach noch strahlendes Spätsommerwetter. Vor allem hatte es seit Februar viel zu selten geregnet.
An diesem Tag fand somit der Sportunterricht in der Halle statt. Die Klasse 6d saß auf dem Boden und hörte den Anweisungen des Lehrers zu.
Auch der elfjährige Thombi, ein Junge mit kurzen, roten Haaren, der eigentlich Thomas Abermann hieß, sich aber von seinen Freunden immer „Thombermann“, oder einfacher „Thombi“, nennen ließ.
Anschließend sollten die Kinder die aufgestellten Geräte im Kreis durchturnen. So sprang Thombi ohne große Mühe über einen Bock, ein Pferd und einen Kasten, hangelte sich über den Barren – und stand dann vor der Stange, an der er sich hochziehen musste.
Doch hier überkam ihn wieder einmal eine Hemmung, hinter ihm begannen die anderen aus seiner Riege schon zu murren. Irgendeine beklemmende, frühkindliche Erinnerung war das – an seinen Vater und das Dach ihres Hauses
Schließlich zog er sich ein Stück hoch, ließ sich aber auf halbem Weg wieder hinunter gleiten. Da schüttelten die Klassenkameraden hinter ihm den Kopf, einer rief ihm zu:
„Na, hast du wieder keine Luft in so großer Höhe bekommen?“
Doch darauf antwortete Thombi nicht und vollführte einen weiten Sprung vom Trampolin.
Nach dieser Stunde hatte die Klasse Mathematik, in der gerade die Bruchrechnung anfing. Hier stützte Thombi seinen Kopf auf den Arm und sah zur Tür hin.
Frau Biegmann, die knapp dreißig Jahre alte Lehrerin, fragte ihn:
„Thomas, hast du in der letzten Stunde gut aufgepasst?“
Da nickte Thombi leicht, änderte seine Haltung aber nicht.
Die Lehrerin fuhr fort:
„Dann erklär doch allen nochmals, was Zähler und Nenner in einem Bruch sind!“
Jetzt richtete sich Thombi auf und sah zur Lehrerin hin, sein Rücken blieb allerdings immer noch leicht gekrümmt. Er erwiderte:
„Der Zähler ist wie ein Zebra, das sich aufbäumt und wegrennt – muss wohl über dem Strich stehen! Und wat ,Arschloch’ genannt wird, muss sich darunter befinden!“
„Na gut, wenn du es dir so leichter merken kannst“, meinte Frau Biegmann und zeichnete einen Bruch an die Tafel, während Thombi mit dem Stuhl kippelte.
Die Klingel läutete das Ende des Schultages ein, und die Schüler stürmten unter lautem Geschrei nach draußen. Vor der Tür musste Thombi allerdings noch kurz stehen bleiben, um ein paar Blätter aufzusammeln, die aus seinem braunen, abgenutzten Ranzen gefallen waren. Seine roten Haare waren mittlerweile ziemlich zerzaust; und sein gelbes T-Shirt wie auch seine schon stark verblassten Jeans und seine Turnschuhe verrieten, dass er heute schon auf dem Schulhof in den Schmutz gefallen war.
Frau Biegmann und Frau Standner, eine Lehrerin von mittlerem Alter und mit einer großen Brille, kamen gerade vorbei. Als sie weitergingen, flüsterte Frau Standner:
„Was nur aus diesem Jungen werden soll? Eigentlich ist er intelligent ...“
Frau Biegmann erwiderte, während sie den Riemen ihrer rechten Sandalette zurechtrückte:
„Seine Leistungen lassen allerdings kaum darauf schließen!“
„Irgendwie habe ich auch den Eindruck, dass man ihn ans Gymnasium empfehlen sollte, wenn er sich im Unterricht nur mehr anstrengen und nicht so zappeln und so viel anderes machen würde ...“
„Sein Vater soll sogar seine Arbeit auf dem Bau verloren haben und jetzt im Suff leben, wird sich kaum für die Bildung seines Sohnes einsetzen!“
„Sein Glück, dass in Berlin die Grundschule bis zur sechsten Klasse geht. In anderen Bundesländern hätte er sich schon nach der vierten Klasse für seinen Schultyp entscheiden müssen!“
„Wollen wir nur hoffen, dass er diese Chance jetzt wirklich noch nutzt!“
„Also, wenn dieser Junge nicht auf die Hauptschule kommt, spendiere ich allen Kolleginnen und Kollegen etwas!“
„Willst du im Ernst über so etwas wetten?“, fragte Frau Biegmann und drehte sich verwundert zu ihrer Kollegin um. Doch diese entgegnete:
„Na ja, nicht wirklich. Vielleicht wird diesem Jungen wenigstens die Kur gut tun, die man ihm verschrieben hat.“
Auch in der 10. Klasse einer Kleinstadt-Realschule war die letzte Unterrichtsstunde angebrochen, manche der Schülerinnen und Schüler schienen bereits reif für das Unterrichtsende.
So saß die fünfzehnjährige Siusannia verträumt und in gekrümmter Haltung auf ihrem Platz. Eigentlich hieß sie Susanne, hatte sich aber schon früh einige Spitznamen für sich ausgedacht. In der Zeit, als sie sich für Indianergeschichten zu interessieren begann, war sie auf den Namen „Siouxsannia“ gekommen. Dieses Interesse passte auch zu ihren glatten, schwarzen Haaren, hatte aber mittlerweile nachgelassen; doch wollte sie den Namen, wie er gesprochen wurde, beibehalten. Nur sollte er einfacher geschrieben werden, eben „Siusannia“.
Der Lehrer fragte sie:
„Susanne, kannst du uns erklären, was ein gleichseitiges Dreieck ist?“
Da schrak sie auf und sagte:
„Wie? Was für ein Dreieck; ein rechtwinkliges?“ Während der Lehrer seine Frage wiederholte, flüsterten ein paar Mitschülerinnen und Mitschüler, die in ihrer Reihe oder hinter ihr saßen:
„Ob sie wieder von Indianern träumt?“
„Davon in letzter Zeit nicht mehr – schon eher von Pferden!“
„Oder von Jungs!“
„Ja, genau, von einem Freund!“
„Nein, eher vom Meer, auf dem sie wegfahren, oder von den Bergen, auf die sie hochsteigen möchte!“
„Wie soll sie das machen, wenn sie nie etwas isst?“
„Sie denkt doch, sie wäre zu dick!“
„Oder sie denkt an ihren Vater, der von der Mafia ermordet wurde!“
„Na ja, nächste oder übernächste Woche fährt sie zur Kur in die Berge, vielleicht nimmt sie da wenigstens etwas zu!“
Schließlich läutete die Klingel, und alle packten ihre Sachen.
In einer Mietwohnung mit zwei Zimmern, etwa sechzig Quadratmeter groß, saß Siusannia mit ihrer knapp über dreißig Jahre alten Mutter am Küchentisch. Von draußen hörte man noch gut den Lärm der Straße.
Als Siusannia gerade ihre Schulhefte beiseite legte, fragte ihre Mutter:
„Schon fertig mit Hausaufgaben?“
„Es war heute so wenig auf“, erwiderte Siusannia, worauf ihre Mutter meinte:
„Du solltest dich