„Kannst du doch alles immer noch!“, fährt Robert mir in die Parade.
„Aber es ist doch nicht mehr das selbe.“ Diesmal bleibe ich standhaft. „Das wird doch alles abgewickelt und eingestampft. Du wirst sehen, bald gibt es gar nichts mehr, was wir in unserer Freizeit machen können.“, prophezeie ich.
„Langeweile hat noch niemandem geschadet, sagt meine Oma immer.“, mischt sich Sirko ein.
„Sagt sie das?“, raunze ich ihn an.
„Und Recht hat sie. Die besten Ideen werden beim Nichtstun ausgebrütet.“, beharrt Sirko auf seiner Meinung.
„Ein Hoch auf die Langeweile!“, schreit Robert und reckt seine Bierflasche in die Höhe.
„Haltet endlich die Fresse oder ich ruf die Polizei!“, brüllt erneut die ungehaltene Stimme von oben. Robert reißt die Augen weit auf und verzieht den Mund in gespielter Verlegenheit. Theatralisch hebt er den Finger vor den Mund und macht so laut, dass man es bestimmt auch noch in Dresden hören kann: „Pschschscht!“
Wir brechen in ein befreiendes Lachen aus, das weit durch die Häuserschluchten hallt.
„Macht euch nur lustig, ihr Rotzlöffel. Das Lachen wird euch schon noch vergehen.“, schreit der Mann zu uns herunter und knallt das Fenster wieder zu.
„Besser, wir hauen ab.“, meint Sirko immer noch um Luft ringend.
„Ja, ist sowieso schon spät.“, sagt Robert mit Blick auf seine Armbanduhr.
„Neu?“, wundere ich mich, als ich die silbern glänzende Digitaluhr sehe.
„Ja.“, bestätigt Robert. „Schicke Quarzuhr, was?“
Ich nicke andächtig. „Schon wieder etwas, das sich geändert hat.“
„Du wirst drüber wegkommen.“, lacht Robert und wirft seine leere Bierflasche im hohen Bogen in die Dunkelheit.
„Ist da nicht Pfand drauf?“, fragt Sirko perplex.
„Den schenk ich dem alten Meckersack.“, meint Robert. „Macht‘s gut! Wir sehen uns.“
„Bis die Tage.“, ruft auch Sirko und macht auf dem Absatz kehrt.
Ich stehe in der Dunkelheit und blicke meinen beiden Freunden nach. Und doch hat sich alles geändert, bleibe ich bei meiner Ansicht. Aber vielleicht bin einfach nur ich anders geworden?
„Hallo Tilo!“, begrüßt mich Onkel Kurt, wuschelt mir kurz durchs Haar und stürmt durch unseren Flur Richtung Wohnzimmer.
Tante Elvira nimmt sich etwas mehr Zeit für die Begrüßung und begutachtet mich eingehend. „Du hast dich gar nicht verändert.“, lautet das Fazit ihrer Untersuchung.
„Wie sollte er auch? Wir haben uns erst Weihnachten gesehen.“, sagt Katja in ihrem Rücken. „Kannst du mal Platz für uns machen? Wir wollen nicht den ganzen Abend im Treppenhaus stehen.“
„Also, wie redest du denn mit mir?“ Empört dreht sich Tante Elvira um, wird aber von der geballten Masse meiner beiden Cousinen in den kleinen Flur hineingedrängt.
„Hallo Tilo!“, ruft Silke, die zwei Jahre jünger ist als ich, drängt sich an uns vorbei und verschwindet im Zimmer meines Bruders.
„Sven, Besuch für dich!“, rufe ich Richtung Badezimmer, um ihn vorzuwarnen. Er mag es gar nicht, wenn jemand in sein Reich eindringt, ohne dass er anwesend ist.
Kaum ist mein Ruf verklungen, stürmt Sven auch schon aus dem Bad. Mit einer beachtlichen Geschmeidigkeit zwängt er sich zwischen uns durch und zerrt dabei den Reißverschluss seiner Jeans hoch. Unter den erschrockenen Blicken meiner Tante saust er in sein Zimmer. Wir können nur ahnen, wie er sich mit gehetztem Blick in seinem Heiligtum umschaut, denn die Tür knallt hinter ihm lautstark in ihr Schloss.
„Kommt doch erstmal rein!“ Mutter reagiert nicht weiter auf die Kapriolen meines Bruders. Sie rollt nur kurz mit den Augen, was ich für mich mit „die Hormone“ übersetze und wirft mir einen flehenden Blick zu. Klar will sie nicht mit Tante Elvira allein sein. Wer will das schon?
Also schnappe ich mir Katja und ziehe sie ins Wohnzimmer. Ich höre noch, wie Elvira ihrer Tochter ein „Darüber sprechen wir noch, junge Dame.“ zuzischt, dann haben wir uns schon durch die Tür geschoben.
Onkel Kurt lässt sich schwerfällig auf Dagmar fallen. Unser altes Schlafsofa dient zur Zeit sowohl als Polsterfläche für Gästehintern als auch als Schlafplatz für meine Mutter. Liebevoll tätschelt er den rauen Stoff, dessen Farbgebung irgendwo zwischen gelb, orange und braun liegt. „Das gute Stück habt ihr ja immer noch.“, brummt er vergnügt und inspiziert die Kuchenstücke, die Mutter geometrisch exakt auf einem Teller angeordnet hat.
„Ja, für was Neues ist zur Zeit echt kein Geld da.“, stöhnt Mutter. „Allein der Umzug hat ein Vermögen gekostet.“
„Na, wenigstens war es nicht schwer, eine kleinere Wohnung zu finden.“, kehrt Onkel Kurt den Optimisten heraus. „Vor einem Jahr wäre das noch ein echtes Problem gewesen.“
„Schön habt ihr es hier.“, trällert Tante Elvira von der Balkontür aus. Sie hat mit ihrem feinen Radar für brenzlige Situationen erkannt, dass dieses Gespräch unweigerlich auf meinen Vater, der es sich irgendwo im Westen bequem gemacht hat, hinauslaufen wird und will den Moment noch ein Weilchen hinauszögern.
Mutter geht auf ihr Angebot ein und tritt neben sie. Gemeinsam schauen sie auf die schneebedeckte Fläche zwischen den Neubaublocks. Ich muss nicht hingehen, um zu wissen, was die beiden sehen. Aber ich kann Elvira in diesem Punkt Recht geben. Zwar wohnen wir immer noch in einer Plattenbausiedlung, aber die ist schon viel früher hochgezogen worden als unsere bisherige Wohngegend. Hier gibt es sogar Bäume und Sträucher, die höher sind als ich. Im Sommer sieht es bestimmt ganz nett aus.
„Wir hatten wirklich Glück.“, meint Mutter und lässt ihren Blick weiter über die winterliche Betonwüste schweifen. „Die Jungs haben jeder ein eigenes Zimmer und es ist jetzt viel kürzer zu meiner Arbeit. Und zur Schule kann Sven jetzt auch laufen.“
„Hat der ein Glück.“, raune ich Katja zu. Irgendwie gelingt es ihr, ein Kichern zu unterdrücken.
„Setzt euch doch!“, bittet Mutter alle zu Tisch. „Der Kaffee ist schon fertig.“
Damit eilt sie in die Küche und wir verteilen uns um den hochfahrbaren Klapptisch.
„Wie läuft die Arbeit?“, fragt mich Onkel Kurt.
„Läuft so.“, druckse ich herum. „Ist halt alles irgendwie komisch.“
„Wieso komisch?“, fegt Elviras schrille Stimme dazwischen.
Verlegen zucke ich mit den Schultern. „Ich kann es nicht richtig beschreiben. Es ist so, als würden wir alle an einem Strand sitzen und auf den Sonnenaufgang warten. Und das schon seit Wochen, aber der Sonnenaufgang kommt nicht.“
Elviras Stirn legt sich bei dem Versuch, meinem Gerede einen Sinn zu entlocken, in Falten.
Aber Onkel Kurt nickt zustimmend. „Ich glaube, ich weiß genau, was du meinst.“
„Und wie läuft es bei dir?“, frage ich ihn schnell, bevor sie mich weiter mit meiner öden Ausbildung nerven können.
„Ach, du weißt ja.“, gibt sich Kurt zufrieden. „Musik funktioniert überall gleich. Als Musiklehrer mache ich einfach da weiter, wo ich aufgehört habe.“ Dann beugt er sich vor und raunt uns in verschwörerischem Tonfall zu: „Aber ihr müsstet mal die Geschichts- und Stabü-Lehrer sehen. Die kommen vielleicht ins Schwitzen.“ Mit der flachen Hand schlägt er auf den Tisch und bricht in ein derbes Lachen aus.
„Huch, Kurt! Jetzt hast du mich aber erschreckt.“, tadelt ihn meine Mutter, die eben mit der Kaffeekanne aus der Küche zurückgekommen