Er erzählte es den anderen erst gar nicht. Er erzählte ihnen vieles nicht. Immer wieder hatte er diese Wachträume, und die einzige, der er sich ab und zu anvertraute, war Mome Ira. Die lachte ihn wenigstens nicht aus. Aber auch mit Mome Ira war er vorsichtig. Eigentlich behielt er das meiste für sich.
Die namenlose Elfenkönigin, die ihm immer wieder im Traum erschien, so schön und kühl, mit alabasterweißer Haut und blau schimmerndem Haar, sie begleitete ihn nun schon seit vielen Jahre. Zuerst war er erschrocken über diese Träume gewesen, aber sie waren nie gewalttätig oder zerstörerisch oder anders schlimm. Aber sie kamen immer wieder, und er lernte sie zu mögen und sich auf sie zu freuen.
Kaum ein Mond verging, ohne dass er von ihr träumte. Sie hatte eine glockenreine Stimme, wie der Bach, an dem er so gerne saß und die scheuen schwarz-weißen Amseln beobachtete, und ihr Lachen war so rein, dass es ihm beinahe das Herz vor Freude und Glück zerriss. Eigentlich sang sie mehr als sie zu ihm redete, und er liebte ihre hochgewachsene Erscheinung, ihre schwebenden Gesten, ihre blasslila farbenen Augen und den verträumten melancholischen Ausdruck darin. Sie war ihm fast so sehr eine Mome wie Ira, obwohl er sie doch gar nicht kannte. So etwas durfte er Mome Ira natürlich nicht erzählen.
Die Elfenkönigin – und er wusste einfach, dass es eine Elfenkönigin war – begleitete ihn durch seine ganze Kindheit, und endlich hatte er auch gelernt, wie er mit ihr in Kontakt treten konnte.
Immer, wenn er sich an den kleinen Bach zurückzog und seine silberne Flöte hervorzog, die er seit seinem Auffinden um den Hals trug, und dann an die Elfenkönigin dachte und auf seiner Flöte spielte, sah er sie. Mal klappte es besser, mal schlechter, aber immer, wenn er die Augen zumachte und fest an sie dachte, während er kleine Melodien spielte, erschien sie ihm und lächelte ihm zu.
Nicht, dass sie ihm jedes Mal etwas zu sagen hatte, aber immerhin, er konnte sie durch sein Flötenspiel herbeilocken. Das war sein Geheimnis, und er bewahrte es für sich.
So war es auch an jenem Tag im letzten Sum gewesen, als er wieder einmal im kühlen Schatten des großen Baums am Bach saß, die klare süßliche Luft atmete und die Füße ins Wasser hängen ließ. Er verspürte einen starken Drang, die Elfenkönigin zu sehen und holte seine Flöte unter dem Hemd hervor.
Doch dieses Mal war etwas anders. Ganz anders als sonst. Er brauchte sich nicht großartig zu konzentrieren, und kaum hatte er die Flöte an die Lippen gesetzt, tauchte die Elfenkönigin aus einem geheimnisvollen Nebel heraus auf, als habe sie nur darauf gewartet, dass er sie endlich mit der Flöte rufen würde. Sie lächelte nicht so entspannt wie sonst. Sie winkte ihm sorgenvoll zu und sagte eindringlich in ihrem hellen Singsang: „Fandor Ellson, eile schnell zum Fuß des gelben Berges. Du wirst dort gebraucht. Lauf!“ Daraufhin verschwand sie wieder im Nebel, und Fandor ließ die Flöte sinken.
Fandor war so verdattert, dass er noch einige Sekunden mit weit aufgerissenen Augen am Bachrand sitzen blieb und das eben Gehörte in sich einsickern ließ, als ihn das laute „Ghirrr“ eines Milans aus seinen Gedanken riss. Erschrocken zuckte er zusammen und versuchte, unter dem dichten Blätterdach hervor den Himmel nach dem großen Vogel, den er soeben gehört hatte, abzusuchen.
Dann wurde ihm langsam klar, dass die Elfenkönigin ihm einen Auftrag erteilt hatte. Sie hatte sogar von dem gelben Berg gewusst, den sein Bruder Thorn und er vor einigen Tagen erkundet hatten! Wie war das möglich?
Hastig rappelte er sich auf und rannte los. Noch im Laufen dachte er über diesen irrwitzigen Wachtraum nach. War er jetzt völlig übergeschnappt?
Nein. Fandor spürte, dass die Gefahr real war. Er lief so schnell er konnte, und er war ein guter Läufer. Er spürte Zweige ins Gesicht klatschen, darunter auch stachelige Rosenzweige und dornige Alosen, aber er rannte weiter. Irgendetwas sagte ihm, dass das Ganze keiner seiner gewöhnlichen Träume gewesen war, sondern ein wirklicher Hilferuf. Er hörte einen seiner Hemdsärmel einreißen, als er sich eng an einem Gebüsch vorbeischob, um keine Zeit zu verlieren, und dachte augenblicklich an den Blick, den ihm Mome Ira am Abend wohl zuwerfen würde, wenn sie den Riss entdeckte. Mome Ira konnte einen wirklich böse anschauen, wenn sie wollte. Dann streifte er diesen Gedanken eilig ab.
Seine Lungen brannten schon, als er endlich nach einer Viertelstunde am Fuß des gelben Berges ankam und den Anstieg vor sich sah. Staub stieg ihm in die Augen, und einmal strauchelte er sogar und fing sich gerade noch mit den Knien ab, doch er rannte weiter den Berg hinauf, blutig und verschrammt und mittlerweile laut keuchend.
Dann sah er sie. Beide zugleich. Abrupt blieb er stehen, schnaufend und gierig Luft in seine Lungen pumpend. In einiger Entfernung vor ihm stand Thorn, und dieser rührte sich nicht. Sein Freund hielt mit einer Hand einen Bogen umklammert, aber die andere bewegte sich nicht zu dem geschulterten Köcher, in dem mehrere selbst geschnitzte Pfeile staken. Thorn stand nur da und schien nicht einmal zu atmen. Und Fandor sah mit einem Blick warum.
Thorn gegenüber stand der größte braune Bär, den Fandor je zu Gesicht bekommen hatte. Er schien sehr unruhig zu sein und richtete sich wieder und wieder zu seiner vollen Höhe von mehr als einem ausgewachsenen Mann auf. Dabei brummte er so tief wie ein Gewitterdonner. Der Bär schien eine Höhle zu bewachen, deren Eingang dicht hinter ihm im Halbdunkel des mit einem Vogelbeerbaum bewachsenen Hügels lag. Obwohl Fandor viele Meter unterhalb von Thorn und dem großen Bären zum Stehen gekommen war, konnte er den bedrohlichen Atem und den scharfen Geruch des wilden Tieres riechen. Der Boden schien unter ihm zu beben, so laut dröhnte der gewaltige Bärenruf den Berg hinunter.
Fandor kam in den Sinn, dass der Bär sicher ein Junges in der Höhle bewachte, und es fiel ihm ein, wie Pope Prakh sie ermahnt hatte, dass es nichts Bedrohlicheres gäbe als ein Tier, das sein Junges verteidigte.
Fandor überlegte voller Hast, was zu tun war. Er musste Pope Prakh holen. Oder einen der anderen Männer. Oder wenigstens einen seiner großen Brüder, Larsso oder Mjörk. Ihm schoss ein ganzer Schwarm von Ideen gleichzeitig durch den Kopf, doch keine wollte die richtige sein. Wenn ihm jetzt nichts einfiele, hätte er heute Abend keinen Freund mehr, das wurde Fandor in diesem Moment klar, und die Gewissheit über diese Tatsache kroch ihm kribbelnd den Rücken hinauf, heiß wie ein Heer roter Ameisen. Dieser Bär würde nicht mehr lange fackeln. Und Thorn stand vor ihm wie ein delikates Abendessen auf einer von Mome Iras Essensplatten.
Fandor wusste nicht, wie er auf die Idee kam. Er sollte sich auch später nicht mehr daran erinnern. Es war ein Reflex.
Der Bär verbreitete einen starken Gestank nach Moschus, Aas und Nervosität. Er begann nun langsam auf Thorn zuzulaufen, sich von links nach rechts und wieder zurück wiegend, wobei er immer wieder dieses gefährliche donnernde Brummen ausstieß und mit den Augen rollte, so dass selbst Fandor von seiner Position aus das Weiße darin sehen konnte.
Thorn bewegte sich nicht, es wäre sein sicherer Tod gewesen. Die beiden trennten noch ungefähr fünf Manneslängen, als Fandor anfing seine Flöte zu spielen. Erst leise und zaghaft, dann lauter und sicherer, stand er im Hintergrund und flötete eine Melodie, die er im gleichen Moment erfand, als er sie blies.
Thorns Gesicht, sonst gut durchblutet, war bleich und fleckig wie ein schlecht ausgebackener Mehlfladen, und Schweiß lief ihm in Bächen über die Stirn. Er schluckte schwer. Fandor, ganz in seine Melodie und sein Spiel vertieft, trat vorsichtig auf die beiden zu.
Der Bär war nun stehengeblieben und ließ seinen Blick wandern zwischen Thorn, der eine sichere Beute zu sein schien, und Fandor, der sich ihm Schritt für Schritt näherte.
Fandor hatte später, als er mit seiner Familie am Feuer saß und Thorn mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen von seiner Heldentat berichtete, nicht einmal mehr sagen können, was für eine Melodie er denn gespielt hatte, und er wusste auch nicht mehr zu sagen, wie lange er gespielt hatte oder ob die Sonne schien oder