Der veruntreute Himmel. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738059687
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unaussprechlich geistiges Lila hervortrat. Doch bei der nächsten Rückung des morgendlichen Farbenzeigers war der Zwischenakt der Natur zu Ende, und die Vögel setzten ein mit einem Schlag. Es war ein aufbegehrendes, ja ein gemeiner Streit, der da plötzlich losbrach. Die Vögel schienen weniger die nahende Sonne zu grüßen, als empört bei ihren gestrigen Unstimmigkeiten anzuknüpfen, genau dort, wo sie diese abgebrochen hatten. Nach der kosmischen Lähmung durch die Nacht plärrte da in diesem Vogelschrei die ganze Banalität, die niedrige Verschworenheit des Lebens los mit ihrem kleinbürgerlichen Neid und Hader, durch den erst das Ungeheure unserer Existenz im All den Erdenwesen erträglich zu werden scheint. Und Leopold hatte recht. Die großen Verwandlungen geschehen nicht allmählich, sondern mit einem Schlag. Im Gegensatz zu der bekannten Lehrmeinung macht die Natur Sprünge, wo sie nur kann.

      Wir aber fühlten uns in den wachsenden Tag hinein sonderbar stolz. Wir hatten ja nicht nur eine Nacht durchzecht, sondern dieses Morgenwerden mit unserer eigenen Natur, mit unserm ganzen Körper tüchtig mitgeleistet. Erschöpft und ausgeruht, still und freudig, gedankenleer und besonnen fand uns die kurze Kälte vor Sonnenaufgang.

      »Es ist doch schön«, sagte Livia, »den Morgen wieder einmal auf die Art erlebt zu haben. Wenn man geschlafen hat, ist es nicht dasselbe.«

       Sie rief Doris und deren Freundinnen herbei und ging mit ihnen ins Haus, um das Frühstück zu bereiten. Schon nach einer Viertelstunde war der Tisch gedeckt. Heißer, starker Kaffee wurde aufgetragen, Brot und Kuchen, Butter und Honig, Eier und Schinken. Mit Heißhunger stürzten wir uns darauf, denn der verlorene Schlaf wollte durch Speis und Trank ersetzt werden. Der Lacher, der trotz seiner fortgeschrittenen Jahre mit uns standgehalten hatte, war auch ein Lober. Einer Hausfrau wie Livia sei er noch niemals begegnet, erklärte er. »Denkt euch«, sagte Livia, damit das Lob gerecht verteilt sei, »Teta war schon auf und hat bereits alles vorbereitet gehabt.«

      Unsere Kaffeetassen waren noch nicht leer, als Philipp die unvermutete Absicht äußerte, sofort aufzubrechen und mit seinen Freunden den Schröckenspitz zu ersteigen. So hieß der nächstgelegene, zum Herrschaftsgebiet des Toten Gebirges gehörige Berggipfel von etwa zweitausenddreihundert Meter Höhe, eine sogenannte »schwierige Partie«, da sie einige ungesicherte Kletterstellen aufwies. Livia sah ihren Sohn flüchtig an:

      »Ich hab' immer gemeint, du verabscheust jeden Dilettantismus«, sagte sie. »Was bedeutet das, gnädigste Frau Mama?« sagte er. »Vielleicht kann's dir der Theo erklären.«

      Ich wußte, daß Livia nur sehr ungern ein Verbot aussprach, von Leopold ganz zu schweigen. Daher übernahm ich's, ihren Dolmetsch zu machen.

      »Deine Mutter meint, daß nur ein Dilettant sich unausgeschlafen und übernächtig an solch einen Aufstieg heranwagt. Die echten Bergsteiger gehn um acht Uhr zu Bett, schonen ihre Glieder und enthalten sich des Alkohols vorher, bekanntlich. Ihr würdet sicher schon beim Bernegger Bauern umkehren müssen und mit einer unnötigen, aber ziemlich verdienten Niederlage nach Hause kommen, wenn ihr uns nicht mit irgendwelchem Berglatein anschmieren wollt.«

      »Aber Himmelherrgott«, trotzte Philipp, »ich halt's nicht aus!« Und er wandte sich den jungen Leuten zu:

      »Mich reißt es in den Beinen – man muß doch einen Auslauf haben nach unserm Festkabarett, nach solchen Triumphen, nicht wahr, meine Herren?«

      »Auslauf, soviel ihr wollt«, mischte sich Leopold ein. »Von hier auf den Kroatenkogel zum Beispiel geht's auch hübsch zwei Stunden hinauf, verwegener Sohn, und oben im Gasthaus bekommt ihr sogar ein ganz gutes Mittagessen. – Die protzige Vitalität dieser neuen Generation ist ekelerregend.«

      Philipp legte die Hand aufs Herz und verbeugte sich im Stile des Artisten Bichler:

       »Voilà«, machte er, »ein bescheidener, aber weiser Rat. Man sieht, die Kunst der Diplomatie besteht im Kompromiß. – Der Kroatenkogel ist ein träumerischer Abendspaziergang für Fräul'n Teta mit Herrn Gemahl. – Ich bitte zu beachten, daß ich wieder einmal meine hochfliegenden und radikalen Pläne dem romantischen Kleinmut unserer älteren Generation opfere.«

      Philipp hatte recht. Auf den Kroatenkogel, einen Waldberg der Umgebung, führte eine breite Promenade, die an jeder Wegkehre mit Ruhebänken für schlendernde Spaziergänger und Naturfreunde geschmückt war. Ich selbst ging zwei- oder dreimal des Jahres die Serpentine bis zu dem beliebten Gasthaus hinauf. Es war wirklich ein Spaziergang für ältere Leute oder gesetzte Seelen, die jedes alpinistischen Ehrgeizes entbehrten. Sogar Herzkranke durften diesen sanften und gepflegten Anstieg wagen.

      Nachdem sie noch einige Male auf das Entehrende dieses allzu leichten und niedrigen Zieles hingewiesen hatten, versprachen die jungen Leute die Ersteigung des Schröckenspitz oder, besser noch, des Großen Priel für einige Tage zu verschieben, denn Dilettanten wollten sie sich nicht schimpfen lassen. Dilettant heißt zu deutsch Liebhaber. Der moderne Mensch aber ist kein Liebhaber, sondern ein Zielhaber. Für den Auslauf also mochte der Kroatenkogel genügen. Am frühen Nachmittag wollte man wieder daheim sein.

      Philipp winkte uns flüchtig zum Abschied. Dann sprang er in seiner ganzen Länge den andern voran. Wir blickten ihnen nach, wie sie, das Parktor zur Seite lassend, sich über den Zaun schwangen.

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