Ihre Pflicht jedoch erfüllte sie auch jetzt, indem sie immer wieder zur Herrin hinblickte, ob sie dieser nicht mit irgendeiner Handreichung zu Diensten sein könne. Sie bewies ein erstaunliches Feingefühl, indem sie nur eine gemessene Weile in unserem Kreise absaß, sich dann bescheiden erhob und an Livia wandte: »Ich werd' bittlich sein, nicht weiter stören zu dürfen. – Muß jetzt mit gnädiger Erlaubnis die heißen Würstl herrichten, die Sandwiches und das Bier.«
Man dankte ihr noch einmal und ließ sie gerne ziehen. Denn wir alle sehnten uns nach einem guten frischen Trunk.
Ich hatte drei Glas Bier heruntergestürzt und nachher zwei Gläschen Himbeergeist. So leicht und glücklich fühlte ich mich, daß ich das Bedürfnis empfand, eine Weile allein mit mir zu sein, um meine Glücklichkeit bewußt auszukosten. Ich ging in mein Zimmer, machte kein Licht, stieß das Fenster auf und lehnte mich weit hinaus, nur nächtlich atmend und seiend. Der Mond war untergegangen. Das Tote Gebirge mit dem Großen Priel stand als eine fahle Ahnung im Westen. Hingegen wölbte sich die dichtgewobene Milchstraße des August, dieser Brautschleier des Universums, lächerlich klar und nah vor meinen Blicken.
Servus, Milchstraße! Ich teile dir mit, daß es mir außerordentlich gut geht, denn ich weiß, du interessierst dich zweifellos für mein Wohlergehen. Ich weiß auch, daß dich nur billionenstellige Zahlen ausdrücken, und ich bin eine angeheiterte Ameise, um nicht zu sagen Laus. Aber was soll das heißen, groß und klein? Das sind sinnlose Verhältnismaße. Ich muß doch größer sein als du, da deine Billionen Lichtjahre Platz finden in meinem Ameisenblick. Damit wir nicht in Streit geraten über unsere Bedeutung, schlage ich dir eine versöhnliche Formel vor: Du bist in mir aufgehoben, und ich bin in dir aufgehoben. – Ich bin übrigens sehr gut aufgehoben. Die Argans sind meine Freunde. Sie nehmen mich, wie ich bin. Sie verstimmen mich Verstimmbaren beinahe nie. Und dieses Zimmer gehört mir. Es ist mein liebes Zimmer, und niemand darf es mir wegnehmen. Hier arbeit' ich so gut. Und meiner neuen Arbeit hab' ich unbedingt unrecht getan. Livia findet sie sehr aussichtsreich, und mein Verleger schreibt mir, daß er das Manuskript nicht ohne Ungeduld erwarte. Ich muß wirklich verrückt gewesen sein, an diesem glänzenden Stoff zu zweifeln. Morgen setz' ich mich wieder hin. Wir gehn vor Mitte Oktober keinesfalls in die Stadt zurück. Im Oktober ist es am schönsten in Grafenegg. Diese brennende Farbigkeit des Alpenherbstes! Das sind noch sechzig Tage mindestens. Sechzigmal Morgen, Vormittag, Nachmittag, Abend, Nacht. Mir geht's wirklich gut. Schließlich steht man mit fünfundvierzig als Künstler noch am Anfang. Tolstoj ist ein Beispiel dafür, und Goethe natürlich. Die Gegenbeispiele sind allerdings noch zahlreicher, aber man muß das Leben und das Werk eines Menschen als Ganzes betrachten; das relative Alter hängt von der Gesamtzahl der Jahre ab. Auch wenn ich vorsichtig rechne und annehme, daß ich nur fünfundsechzig alt werde – warum soll ich nicht fünfundsechzig alt werden? –, bleiben mir noch zwanzig gute Volljahre. Zwanzig Sommer in Grafenegg. Ich werde künftig schon im April herkommen, damit gewinne ich zwanzig weitere Arbeitsmonate meines Lebens, das sind fast zwei ganze Jahre über die Fünfundsechzig hinaus. Vielleicht aber werde ich dreiundachtzig alt, nicht ganz angenehm für einen Junggesellen, aber Philipp und Doris werden mich gewiß nicht verlassen. Philipp und Doris. Komisch, ich hoffe somit als Schmarotzer an der Kindesliebe einer fremden Nachkommenschaft zu enden.
Ununterbrochen drang die Tanzmusik eines überlauten Grammophons aus dem Garten zu mir herauf. Dazwischen war Philipps helle lachende Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien, immer wieder zu hören. Er stand gleichsam auf der Kommandobrücke dieser Festnacht. Ich ging auf und ab in meinem lieben dunklen Zimmer. Ich berührte im Vorbeistreifen meine Bücherrücken. Ich sog mich voll an meinen eigenen alternden Geistern, die neben mir auf und ab durchs Zimmer wanderten. Noch einmal stellte ich fest: Es geht mir gut. Zugleich aber erschrak ich ein bißchen über diese so oft wiederholte Feststellung. Die wahre Gesundheit weiß nichts von sich selbst. Dann stieg ich wieder in den Park hinab.
Die Dienerschaft war schlafen gegangen. Der größere Teil der Gäste hatte sich schon zurückgezogen. Gott weiß, wie spät es sein mochte. Die Freunde und Freundinnen der Kinder hielten noch stand. Der Tanz auf der Terrasse ging weiter. Nur die Stimme des Grammophons schien mir schrill vor Müdigkeit geworden zu sein. Ich fand Livia und Leopold an einem Tisch mit dem Lacher, dessen mondhafter Glatzkopf in Dunkel schwebte. Das Männchen hatte den größten Teil seines Schatzes bereits vergeudet. Er lächelte nur mehr verklärt.
»Komm her, Alter«, rief Leopold mir zu, »und trink! So jung sitzen wir nicht wieder beisammen!«
»Er will diese Nacht nicht mehr ins Bett«, lachte Livia, »und er hat ganz recht.« Leopold schenkte mir puren Whisky ein. Sein gutes breites Gesicht war schon tief gebräunt durch die nächtliche Sonne des Alkohols:
»Natürlich hab' ich recht, Theo. – So jung werden wir morgen nicht mehr sein. – Das Alter kommt nämlich nicht, wie diese blöden Ärzte behaupten, tropfenweise, nach und nach, unmerklich, nein, mein Guter, mit einem Schlag kommt's.« – Er hieb die Faust auf den Tisch. – »Wie in Raimunds ›Bauer und Millionär‹, erinnerst du dich: Die Tür fliegt auf, ein kalter Wind weht herein, und ein krächzender gichtischer Mummelgreis in Pelz und Schlapfen tritt auf, das Alter.«
»Brüderlein fein, Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein«, sang der Lacher vor sich hin und wiegte seinen Vollmond. Leopold bedeckte plötzlich sein Glas mit der Hand. Es war eine verwehrende Geste.
»Eine der größten Szenen der Weltliteratur ist das«, sagte er, »für mich wenigstens – wie zuerst die Jugend im Ballettröckchen sich verabschiedet und dann das Alter mit dem eingeschneiten Pelz auftritt. Das reicht an Shakespeare. Ein lieber, kindlicher, wienerischer und doch ganz verzwickter Shakespeare. – Und gelebt haben am Ende nur die paar Genies, wie dieser arme Ferdinand Raimund. – Wir andern aber leben nur, um ihre Geschenke zu empfangen. – Prost, Theo.«
Wir tranken und schwiegen.
Plötzlich tauchte Philipp auf:
»Gestatten die Herrschaften?«
Der Vater schob ihm ein Glas hin. Er aber lehnte es ab und blieb stehen:
»Für die Erklärung, die ich abzulegen habe«, begann er mit seiner gewundensten Feierlichkeit, »ist es notwendig, daß ich aufrecht stehe und meine ungetrübte Nüchternheit bekunde. Herr Leopold Argan, Frau Livia Argan, ich hab' euch ein Kompliment zu machen. Es heißt, daß sich niemand seine Eltern aussuchen darf. Schwindel! Ich hab' euch mir ausgesucht, sonst würd' ich nicht ...«
Er machte eine kleine Pause und wurde feuerrot, weil er sich vor uns schämte. Dann aber brach mit voller Kraft das Geständnis aus ihm:
»Ich bin nämlich so furchtbar gern auf der Welt!«
»Das ist wirklich das größte Kompliment, das einer seinen Herren Erzeugern machen kann«, strahlte der Lacher. Leopold aber prüfte eingehend die Flaschenbatterie, die auf dem Tisch stand: »Darauf müssen wir etwas ganz Starkes miteinander trinken, nüchterner alter dummer Bursche.«
Philipp jedoch war schon wieder verschwunden. Das Grammophon, das ein paar Minuten lang Atem geschöpft hatte, heulte von neuem los. Es fiel mir auf, daß Livia nicht mit uns angestoßen hatte, als wir auf die Lebensfreude ihres Sohnes tranken.
Auf einmal war das Dunkel, in dem wir uns sprechend oder schweigend dehnten wie in einem lauen Bad, fliederfarbig geworden. Die Grillen von Grafenegg – nach ihrer Tonstärke zu schließen sehr ansehnliche Bestien – hielten inne wie auf ein Taktzeichen. Die Natur schaltete