Was ihre Freundinnen anging, so war Frau Alma völlig einer Ansicht mit ihrem Manne, was sie selbst anging, so fühlte sie sich weder erschöpft, noch wartegeduldig. Nach dem Essen eröffnete sie Doll, der sich nach der ungewohnten Morgenarbeit ein wenig auf die Couch legen wollte, sie radele jetzt schnell noch einmal in die Stadt, um ihren Vorrat an Gallenmedizin zu ergänzen, in den nächsten Tagen werde kaum Gelegenheit dafür sein.
Doll hatte leichte Bedenken, da die Russen jeden Augenblick kommen konnten und am besten gemeinsam im eigenen Heim erwartet wurden. Er wußte aber aus mancher Erfahrung, daß es vollkommen aussichtslos war, die junge Frau mit dem Hinweis auf etwa drohende Gefahren von einem Vorhaben abzubringen. Dutzendemal hatte sie ihm im ärgsten Bombenhagel, die Feuersbrünste Berlin bekämpfend, bei Tieffliegerangriffen bewiesen, daß sie völlig furchtlos war. Er sagte also mit einem leichten Seufzer: »Meinethalben! Mach's gut, meine Süße!«, sah sie durchs Fenster abradeln, legte sich lächelnd auf die Couch und schlief ein.
Frau Alma Doll strampelte unterdes eifrig bergauf und bergab dem Städtchen entgegen. Ihr Weg führte sie zuerst über abgelegene Pfade, an denen kaum ein Haus lag, dann durch eine Allee, deren Seiten mit Villen bestanden waren. Schon hier fiel ihr auf, daß kein einziger Mensch auf den Straßen zu sehen war und daß die Villen – vielleicht durch die ausnahmslos geschlossenen Fenster – einen unbewohnten, fast gespenstischen Eindruck machten. ›Womöglich alle schon im Walde‹, dachte Frau Doll und fühlte ihre Unternehmungslust noch steigen.
Dort, wo die Allee in die erste wirkliche Stadtstraße einmündete, stieß sie endlich auf ein Lebenszeichen; es war ein großer Wehrmachtslastwagen. Ein paar SS-Männer waren einigen jungen Frauen und Mädchen beim Aufsteigen behilflich. »Kommen Sie rasch, junge Frau!« rief einer der SS-Männer Frau Doll fast befehlend an. »Dies ist das letzte Wehrmachtsauto, das die Stadt verläßt!«
Wie ihr Mann war Frau Doll sehr zufrieden gewesen, daß die Stadt nicht verteidigt, sondern kampflos übergeben werden sollte. Das hinderte sie aber nicht, jetzt zu antworten: »Das sieht euch Scheißkerlen ähnlich, jetzt, wo der Russe kommt, auszureißen! Seit ihr hier seid, habt ihr getan, als wäret ihr die Herren der Stadt, alles habt ihr uns weggefressen und weggetrunken, aber nun, wo's ernst wird, reißt ihr aus wie Schafleder!«
Noch am Vortage hätte sie nicht ohne die schlimmsten Folgen für sich und ihre Angehörigen so zu einem SS-Mann sprechen dürfen. Die Lage mußte sich in den letzten vierundzwanzig Stunden wirklich grundlegend gewandelt haben, denn der SS-Mann antwortete ganz friedlich: »Machen Sie, daß Sie auf den Wagen kommen und reden Sie keinen Kohl! Die russische Panzerspitze ist schon oben in der Stadt!«
»Um so besser!« rief Frau Doll. »Da kann ich denen gleich Guten Tag sagen!«
Trat auf die Pedale und fuhr fort von dem wohl letzten Wehrmachtsauto, das sie in ihrem Leben sehen sollte, tiefer in die Stadt hinein.
Wieder verstärkte sich der Eindruck, daß sie da durch eine verlassene Stadt fuhr – vielleicht waren jene paar Frauen bei dem Wehrmachtsauto wirklich die letzten Einwohner der Stadt gewesen und alle andern geflohen. Kein Mensch, ja, nicht einmal ein Hund oder eine Katze waren auf der Straße zu sehen. Alle Fenster waren geschlossen, alle Türen sahen verrammelt aus. Und doch, während sie da, sich immer mehr dem Stadtkern nähernd, durch die Straßen fuhr, hatte sie das Gefühl, als halte dieses vielhundertköpfige Wesen nur den Atem an, als könne es jetzt gleich hinter ihr, neben ihr in einen schrecklichen Schrei gequälter Warteangst ausbrechen! Als wohnten eben doch hinter all diesen blinden Fenstern Menschen, fast irr vor Angst um das, was nun kam, vor Hoffnung, daß der grauenhafte Krieg nun wirklich zu Ende ging.
Dieses Gefühl wurde noch verstärkt durch ein paar weiße Lappen, die da und dort, kaum handtuchgroß, über den Türen hingen. In der gespensterhaften Atmosphäre, in der sich Frau Doll seit ihrem Eintritt in die Stadt befand, dauerte es einen Augenblick, bis sie verstand, daß diese weißen Tücher bedingungslose Ergebung bedeuten sollten. Seit zwölf Jahren sah sie zum ersten Male andere Fahnen als die mit dem Hakenkreuz an den Häusern hängen. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Fahrt.
Sie bog um eine Straßenecke, und sofort war das Gefühl dieser unbestimmten Gespensterangst von ihr abgefallen; unwillkürlich mußte sie lächeln. Auf der holprigen Kleinstadtstraße bewegten sich, anscheinend regellos in allen Richtungen fahrend, acht oder zehn Panzer. An den Uniformen, an den Kopfbedeckungen der Männer, die in den geöffneten Deckenluken standen, erkannte Frau Doll sofort, daß dies keine deutschen Panzer waren, nein, es war die russische Panzerspitze, vor der sie eben gewarnt worden war!
Aber dies schien nichts zu sein, vor dem man gewarnt werden mußte. Wie da diese Panzer in der schönen Frühlingssonne hin- und herfuhren, jetzt mühelos die Kante eines Bürgersteiges nehmend, nun wieder, hart an den Lindenbäumen vorbeistreifend, auf die Fahrbahn zurückkehrend, hatten sie nichts Bedrohliches. Im Gegenteil: es schien ein leichtes, fast fröhliches Spiel. Nicht einen Augenblick überkam sie eine Ahnung von Gefahr. Sie fuhr mit ihrem Rad zwischen die Panzer und sprang dann, an ihrem Ziel, der Apotheke, angekommen, ab. In der befreiten Stimmung, in der sie plötzlich war, hatte sie nicht darauf geachtet, daß auch die Häuser dieser Straße ängstlich verrammelt und verschlossen waren und daß sie die einzige Deutsche unter all den Russen war, von denen übrigens auch einige mit Maschinenpistolen auf der Straße standen.
Nur zögernd löste Frau Doll ihren Blick von diesem ungewohnten Straßenbild und wandte sich der Apotheke zu, deren Eingang wie der aller Häuser fest verrammelt und verschlossen war. Da Klopfen und Rufen nichts halfen, zögerte sie nur einen Augenblick und ging dann rasch auf einen Russen mit Pistole los, der ganz in der Nähe stand. »Hör mal, Wanja«, sagte sie zu dem Russen, lächelte ihm dabei zu und zog ihn am Ärmel in der Richtung auf die Apotheke, »mach mir doch den Laden da mal auf!«
Der Russe begegnete dem lächelnden Blick ihrer Augen mit einem gleichgültigen Zurückschauen, einen Moment hatte sie das ein wenig beunruhigende Gefühl, als werde sie angesehen wie eine Hauswand oder ein Tier. Aber dieses Gefühl verging so rasch, wie es entstanden war, als sich der Mann willig genug von ihr zur Apotheke ziehen ließ und dort, rasch ihre Absicht verstehend, mit dem Kolben seiner Maschinenpistole ein paarmal donnernd gegen die Türfüllung schlug. Schon erschien der Löwenkopf des Apothekers, eines Mannes in den Siebzigern, an einem Glasfensterchen oben in der Tür, ängstlich nach der Ursache dieses Lärmens spähend. Das sonst stets von einem freundlichen Weinrot gefärbte Gesicht sah jetzt fahlgrau aus.
Frau Doll nickte dem alten Manne aufmunternd zu und sagte zu dem Russen: »Es ist gut, danke auch schön. Du kannst jetzt wieder gehen.«
Der Soldat trat, ohne eine Miene zu verziehen, ohne sich auch nur nach ihr umzusehen, auf die Straße zurück. Jetzt drehte sich der Schlüssel im Schloß, und Frau Doll konnte in die Apotheke, in der sich außer dem Siebzigjährigen noch seine wesentlich jüngere Frau und deren nachgeborenes Kind von zwei oder drei Jahren befanden. Sofort nach Frau Dolls Eintritt war die Apothekentür wieder verschlossen worden.
So lebhaft jede einzelne Erinnerung an diesen ersten Besetzungstag noch viel später in ihr lebte, so unbestimmt war Frau Dolls Erinnerung an das, was in der Apotheke gesprochen worden war. Ja, ihr Medikament bekam sie mit der gewohnten Präzision ausgehändigt, sie wußte auch noch, daß die Bezahlung dafür abgelehnt, dann mit einem trübe lächelnden Auge wie das Spiel eines törichten Kindes angenommen worden war. Nachher aber kam nur Geschwätz, zum Beispiel, sie könne jetzt keinesfalls zwischen den Russen den weiten Weg nach Haus machen, sie müsse unbedingt hier in der Apotheke bleiben. Und doch bezweifelten die Überredenden einige Augenblicke später selbst, ob dieses Haus noch einige Sicherheit biete, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich in den Wäldern zu verstecken. Schon begann man sich Vorwürfe zu machen, warum man nicht schon viel früher in den Westen Deutschlands geflohen sei – kurz, Frau Doll stieß hier auf das gleiche unselige, sinnlose Geschwätz der von endlosem, gequältem Warten Zermürbten,