LUNATA
Der Alpdruck
© 1947 Hans Fallada
© Lunata Berlin 2020
Inhalt
Vorwort
Der Verfasser dieses Romans ist keineswegs zufrieden mit dem, was er auf den folgenden Seiten schrieb, was der Leser jetzt gedruckt vor sich hat. Als er den Plan zu diesem Buch faßte, schwebte ihm vor, daß neben den Niederlagen des täglichen Lebens, den Depressionen, den Erkrankungen, der Mutlosigkeit – daß neben allen diesen Erscheinungen, die das Ende des schrecklichen Krieges unvermeidlich jedem Deutschen gebracht hat, auch Aufschwünge zu schildern sein würden. Taten hohen Mutes, Stunden voll Hoffnung – es war ihm nicht beschieden. Das Buch ist im wesentlichen ein Krankheitsbericht geblieben, die Geschichte jener Apathie, die den größeren und vor allem den anständigeren Teil des deutschen Volkes im April des Jahres 1945 befiel, von der sich viele heute noch nicht frei gemacht haben.
Daß er dies nicht ändern konnte, daß er nicht mehr Leichtigkeit und Heiterkeit in diesen Roman bringen konnte, liegt nicht allein an des Verfassers Art, die Dinge zu sehen, es liegt vor allem an der Gesamtlage des deutschen Volkes, die heute, fünfviertel Jahr nach Beendigung der Kampfhandlungen, noch immer düster ist.
Wenn der Roman der Öffentlichkeit trotz dieses Mangels übergeben wird, so darum, weil er vielleicht ein »document humain« ist, ein möglichst wahrheitsgetreuer Bericht dessen, was deutsche Menschen vom April 1945 bis in den Sommer hinein fühlten, litten, taten. Vielleicht wird man schon in naher Zeit die Lähmung nicht mehr begreifen, die so verhängnisvoll dies erste Jahr nach Kriegsende beeinflußte. Eine Krankheitsgeschichte also, kein Kunstwerk – verzeiht! (Auch der Verfasser konnte nicht aus seiner Haut, auch der Verfasser war »gelähmt«.)
Soeben ist von »wahrheitsgetreuem Bericht« gesprochen worden. Aber nichts von dem, was auf den folgenden Seiten erzählt wird, ist so geschehen, wie es hier berichtet ist. Ein Buch wie dieses kann schon aus räumlichen Gründen nicht alles sagen, was geschah; es mußte ständig eine Auswahl getroffen, es mußte erfunden werden, Berichtetes konnte in der berichteten Form nicht verwendet, sondern mußte abgewandelt werden. Daß das Ganze darum doch »wahr« sein kann, wird davon nicht berührt: alles hier Erzählte konnte so geschehen und ist doch ein Roman, also ein Gebilde der Phantasie.
Das gleiche ist von den eingeführten Personen zu sagen: so, wie sie hier geschildert sind, lebt keine außerhalb des Buches. Wie die Geschehnisse den Gesetzen des Erzählens folgen mußten, so auch die Personen. Manche sind erfunden, andere sind aus mehreren zusammengesetzt.
Es war nicht erfreulich, diesen Roman zu schreiben, aber das Buch schien dem Verfasser wichtig. Immer, zwischen Aufschwüngen und Niederlagen, blieb ihm wichtig, was innerlich und äußerlich nach Beendigung des Krieges erlebt wurde. Wie fast alle den Glauben verloren und endlich doch ein wenig Mut und Hoffnung wiederfanden – davon ist auf diesen Seiten zu lesen.
Berlin, August 1946
H. F.
Erstes Kapitel
Die eine Täuschung
Immer in diesen Nächten um den großen Zusammenbruch herum wurde Dr. Doll, wenn er wirklich einmal einschlief, von dem gleichen Angsttraum heimgesucht. Sie schliefen sehr wenig in diesen ersten Nächten, stets angstvoll irgendeine Bedrohung des Leibes oder der Seele erwartend. Längst war die Nacht gekommen – nach einem Tage voller Qual –, und noch immer saßen sie an den Fenstern und spähten auf die kleine Wiese, nach den Büschen, zu dem schmalen Zementfußweg hinaus, ob ein Feind käme, bis ihren schmerzenden Augen alles ineinanderfloß und sie nichts mehr sahen.
Oft fragte dann eines: »Wollen wir nicht doch lieber schlafen gehen?«
Aber meist antwortete niemand, sondern weiter saßen sie, starrten und fürchteten sich. Bis Dr. Doll dann plötzlich vom Schlaf wie von einem Räuber überfallen wurde, dessen große Hand sich erstickend über sein ganzes Gesicht legte. Oder es war auch wie dichtes Spinnengewebe, das mit der Atemluft in seine Kehle drang und sein Bewusstsein überwältigte. Ein Alpdruck ...
So eingeschlafen zu sein, war schon schlimm genug, aber solchem schlimmen Einschlafen folgte sofort der Angsttraum, immer der gleiche. Und zwar träumte Doll dies:
Er lag am Grunde eines ungeheuren Bombentrichters, auf dem Rücken, die Arme fest an die Seiten gepreßt, im nassen, gelben Lehm. Ohne den Kopf zu bewegen, konnte er die in den Trichter hinabgestürzten Baumstämme sehen, auch die Fassaden von Häusern mit den leeren Fensterhöhlen, hinter denen nichts mehr war. Manchmal quälte Doll die Befürchtung, diese Dinge könnten tiefer in den Bombentrichter und damit auf ihn stürzen, aber nie änderte eine dieser bedrohlichen Ruinen ihre Lage.
Noch quälte ihn der Gedanke, daß tausend Wasseradern und Quellen, Doll überschwemmend, seinen Mund ganz mit dem gelben Lehmbrei füllen würden. Dem war nicht zu entgehen, denn Doll wußte, er würde aus eigener Kraft nie aus diesem Trichtergrunde aufstehen können. Aber auch diese Befürchtung war grundlos, denn nie hörte er einen Laut von den Quellen und dem Rieseln der Wasseradern, wie es überhaupt totenstill war in dem riesigen Bombentrichter.
Dann war auch der dritte quälende Eindruck eine Täuschung: ungeheure Raben- und Krähenschwärme zogen ununterbrochen über den Himmel des Bombentrichters dahin; er fürchtete sich sehr, sie könnten ihr Opfer im Lehm erspähen. Aber nein, alles blieb weiter totenstill, es gab diese ungeheuren Vogelschwärme nur in Dolls Einbildung, er hätte wenigstens ihr Krächzen hören müssen.
Aber zwei andere Dinge waren keine Einbildung, von ihnen wußte er ganz genau. Das eine dieser Dinge war dies, daß endlich Friede geworden war. Keine Bombe zerriß mehr kreischend die Luft, kein Schuss fiel mehr; es war Friede, es war still geworden. Eine letzte ungeheure Explosion hatte ihn noch in den Grundlehm dieses Trichters hinabgerissen. Nicht allein lag er in diesem Abgrund. Obwohl er nie einen Laut hörte und nichts wie das Beschriebene sah, wußte er doch: