Nick Lubens
Heavy Metal
Wie wir die Mauer wegrockten
Roman
Impressum
Texte: © Copyright by Nick Lubens, 2019
Umschlag: © Copyright by Nick Lubens
Verlag:
Nick Lubens
c/o Burkhardt
Lotzestr. 34
37083 Göttingen
www.starkebücher.de
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin 2019
ISBN: 978-3-748541-95-0
Spotify-Playlist zum Buch: Nick Lubens – Heavy Metal
(Blitzz - Run for your life und Круиз - Время
leider nur auf youtube)
August 1988
Langeweile – Pankow
„Hallo, ich bin Tilo Reichel.“ Nervös hebe ich die Hand zu einem schüchternen Winken. Etwa 40 Augenpaare blicken mir eher gelangweilt als begeistert entgegen. Was hat mich nur geritten, mich zu diesem Schwachsinn überreden zu lassen?
„Schön, dass ihr alle zu uns nach Karl-Marx-Stadt zum Pioniertreffen gekommen seid.“, versuche ich, die Situation zu entkrampfen. Als Barbara Kästner mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, bei einer Veranstaltung etwas Gitarre zu spielen, klang das ganze noch wie eine gute Idee. Die Pioniere glotzen mich an, als hätten sie diesen Spruch schon hundertmal gehört. Das kann gut sein, kommt es mir in den Sinn. Schließlich läuft das Pioniertreffen schon seit ein paar Tagen.
Ich streiche mir den ewig widerspenstigen braunen Scheitel, der ständig nach unten rutscht und mir die Sicht versperrt, zur Seite. „Also, wer kommt aus Halle?“, rufe ich in einem verzweifelten Versuch, etwas Stimmung in die Bude zu bekommen, in den Auftrittsraum des Bezirkspionierhauses, der gut und gerne auch fünfmal so viele Zuschauer fassen könnte. Als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben habe, meldet sich ganz hinten ein kleiner dicker Junge. Wie alle anderen hier trägt er ein weißes Hemd und ein rotes Halstuch, aber irgendwie scheint ihm dieser Aufzug noch unangenehmer zu sein als den anderen, denn andauernd kratzt er sich am Kragen. „Ein großes Hallo nach Halle!“, rufe ich begeistert. Einige lahme Klatscher unterstützen mich, von meinem Wortwitz scheint aber niemand etwas mitbekommen zu haben.
„Gut, wo ist Suhl?“, brülle ich etwas lauter. Vorn in der Ecke kichern ein paar blond bepferdeschwanzte Mädchen albern herum. „Suhl - echt cool.“, kalauere ich weiter vor mich hin. Die albernen Gänse fangen an zu gackern.
„Jemand aus Schwerin da?“ Jetzt, wo ich einmal auf der Bühne Fuß gefasst habe, lasse ich mich nicht mehr so leicht abschrecken. Nicht, dass mir die Sache gleich Spaß machen würde, aber irgendwie habe ich mit jedem Wort mehr und mehr das Gefühl, dass ich vielleicht doch auf diese Bühne gehöre.
Ein paar Jungen in der Mitte des Saals fangen laut an zu grölen und schwenken ihre langen dünnen Arme herum. „Das sind meine Jungs!“, schreie ich. „Applaus für Schwerin!“, fordere ich die Pioniere auf und aus reinem Anstand klatschen sie artig vor sich hin.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich eine ruckartige Bewegung. Leicht irritiert schaue ich nach links, wo sich unsere Pionierleiterin Barbara Kästner in ihrer blauen FDJ-Bluse und dem roten Halstuch postiert hat. Als sie meinen Blick auffängt, rollt sie genervt mit den Augen. Das soll wohl bedeuten, dass die Zuschauer nun warm genug für den eigentlichen Anlass dieses nachmittäglichen Treffens sind.
Ich räuspere mich einmal verlegen, zerre wie der Junge aus Halle am Kragen meines FDJ-Hemds und erkläre: „Ich spiele seit ein paar Jahren Gitarre und präsentiere euch heute einige schmissige Jugendlieder.“
Ein paar Halbstarke, die wahrscheinlich das letzte Mal die Pionierkluft tragen, bevor sie nach den Ferien in die FDJ kommen, verschränken die Arme vor der Brust und glotzen mich herausfordernd an. Ich tue so, als hätte ich sie gar nicht bemerkt und schaue lieber zu den Mädchen aus Suhl, die schon wieder anfangen, albern zu kichern.
Für das erste Lied habe ich ganz tief in der Schatztruhe des FDJ-Liedguts gegraben. Schließlich will ich auch unsere Pionierleiterin beeindrucken, wenn ich schonmal die Möglichkeit habe. Also habe ich meinen Onkel Kurt gefragt, der sich als Musiklehrer in solchen Dingen auskennen sollte und er hat mich mit einem Lied aus den Aufbaujahren unserer schönen Republik vertraut gemacht.
„Das erste Lied heißt ,Wir lieben das fröhliche Leben.‘“, schreie ich ins Mikrofon. 40 verständnislos dreinblickende Gesichter informieren mich darüber, dass ich zumindest nicht das bekannteste Jugendlied als Einstieg gewählt habe.
Wie nach der lauen Reaktion bei der Ankündigung des Songs nicht anders zu erwarten war, singt niemand mit. Mit einiger Genugtuung nehme ich aber zur Kenntnis, dass die Halbstarken in der dritten Strophe, in der vom Lied der Motoren und dem Klang der Maschinen die Rede ist, ihre Arme wieder entschränken und vorsichtig zum Takt meiner Akkorde mitwippen. Ermutigt durch diesen kleinen Erfolg, entscheide ich mich spontan, den alten FDJ-Gassenhauer „Sag mir, wo du stehst“ in der Version der Band Naiv zu singen, die ich vor kurzem bei Sirko auf Kassette überspielt habe. Der Beat ist etwas härter, der Text leicht verändert, aber von den blaubehemdeten Aufpassern scheint davon niemand etwas mitzubekommen.
Höflicher Beifall von Seiten der Pioniere belohnt mich für meine Bemühungen.
„Kannst du auch was fetziges?“, ruft der kleine dicke Hallenser von ganz hinten. Zustimmendes Gejohle kommt von den Halbstarken und auch die kichernden Suhler Gänse nicken wohlwollend zu dem Vorschlag aus dem Publikum.
Irritiert schaue ich zu Barbara Kästner. Mit einem fast unmerklichen Nicken und einem kurzen Augenaufschlag gibt sie mir die Zustimmung, etwas lebensnaher zu werden. Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich für einen in meinem Freundeskreis beliebten Song der Band Pankow, der keine große Herausforderung für meine bescheidene Gitarrenspielkunst darstellt, aber allgemein bekannt und obendrein auch noch fetzig genug sein sollte, um die Pioniere in gute Stimmung zu versetzen.
Schon nach den ersten Akkorden haben einige Jungs und Mädchen das Lied erkannt und klatschen begeistert mit. Ich vermute mal, sie kommen aus Berlin oder Leipzig, wo man die neuesten Trends immer als erstes mitbekommt. Auch unsere Pionierleiterin wippt unwillkürlich mit den Zehen.
Die ersten beiden Strophen gehen reibungslos, als ich aber bei dem Teil des Liedes ankomme, in dem irgendwie doch leise Kritik an der ewigen Eintönigkeit des Lebens und vor allem an den alten Männern, die einem aber auch immer alles vorschreiben müssen, geübt wird, geht ein nervöser Ruck durch die Ordner in ihren blauen Hemden. Einige reißen erschrocken die Augen auf, so als hätten sie Angst um meine geistige Gesundheit, andere tun so, als wären sie so intensiv mit der Inspektion der Wand beschäftigt, dass sie von dem Text des Liedes gar nichts mitbekommen können. Barbara Kästners Fuß wippt auch nicht mehr, dafür toben die Pionier vor mir und patschen lautstark ihre Hände gegeneinander. Einige in den hinteren Reihen hat es sogar von den Hockern gerissen. Sie sind auf die Stühle gesprungen und klatschen begeistert. Die ersten „Zugabe! Zugabe!“-Rufe sind zu hören, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie von den Halbstarken ausgingen, die eben noch so ablehnend vor mir standen.
Irgendwie gehen in dieser Situation die Pferde mit mir durch. Vor meinem inneren Auge beobachte ich den D-Zug aus Problemen, Zurechtweisungen und disziplinarischen Maßnahmen, der als Konsequenz meiner Entscheidung unweigerlich auf mich zurast, mit einer morbiden Faszination, während meine Hände wie von selbst die ersten Akkorde der simplen Tonfolge eines Liedes über die Saiten der Gitarre jagen, das ich bei klarem Verstand nie und nimmer auch nur in der Nähe einer Pionierveranstaltung angestimmt hätte. Vermutlich sagt mir ein ganz kleiner Zipfel meines Unterbewusstseins, dass der Boss erst letzten Monat vor über 160.000 DDR-Bürgern in Berlin-Weißensee gespielt hat und mein Vorhaben dadurch schon irgendwie gerechtfertigt sein wird. Der Rest meines Gehirns scheint gerade in Tiefschlaf