„Dir sag ich’s aber, weil du alle meine Geheimnisse kennen sollst.“
Er senkte seine Augen, denn er ihn plagte nach wie vor die Unsicherheit, ob Meli den ersten unbeholfenen Versuch, ihr seine uneingeschränkte Zuneigung zu erklären, verstehen würde. Er ahnte mehr, als er sah, dass sie nickte und ihn anlächelte. Ihr Lächeln, noch immer rätselhaft, beglückte zugleich, aber es verwirrte ihn auch als er aufblickte. Er hatte es bisher noch nie so bewusst wahrgenommen wie in diesem Augenblick. Schnell berichtete er von Mias Beobachtung, das verdrängte seine innere Aufwallung.
„Was machen wir jetzt?“,
fragte er, seine eigene Ratlosigkeit preisgebend und froh drüber, das Geheimnis mit ihr geteilt zu haben. Auch Meli wusste keine Lösung. Hellmer und Sauer kamen scheinbar nicht in Frage, die hatten genug anderes auf dem Kerbholz, was zum Rausschmiss reichte. Rocky und seine Gang könnten es gewesen sein, zuzutrauen wäre es ihnen, zumal Mias Beobachtungen die Vermutung stützte. Aber wer wollte sich schon mit diesem Kerl anlegen, der anscheinend bei allem Unsinn, den er verzapfte, mit Hilfe seiner Eltern wieder rein gewaschen wurde? Die Ratlosigkeit blieb, zumal auf dem Schulhof noch immer das Gerücht kursierte, Hellmer und Sauer könnten es doch gewesen sein. Was wirklich im Zimmer der Schulleitung ablief, blieb nach außen unbekannt. Im Beisein von Frau Stiehler mussten sich nämlich die Beiden zu dem Vorfall am Dienstag äußern. Zuerst logen sie, was das Zeug hielt und bestritten alles. Erst als mit Zeugen gedroht wurde, gaben sie klein bei und gestanden Häppchen weise ihre Missetaten. Der Rektor war so empört, dass er ihnen mit sofortiger Wirkung ein Hausverbot aussprach. Als ihr heuchlerisches Bitten um Nachsicht kein Gehör fand, begannen sie mit einer Anzeige zu drohen. Doch das Maß ihrer Vergehen überstieg alle Grenzen. Keine der schulischen Sanktionen hatte sie bisher zur Räson gebracht und zwang nun zu Konsequenzen. Hirschwald ließ sich kurz entschlossen mit dem Schulamt verbinden, das im Ergebnis des Gesprächs einem Schulwechsel zustimmte und das mit sofortiger Wirkung. Frau Stiehler informierte telefonisch die Eltern. Murrend verließen die Beiden darauf das Schulhaus, das sie in Zukunft nicht mehr betreten durften. Den Rest ihrer rüpelhaften Laufbahn bestritten sie öffentlich, dabei beschrieben sie bekanntlich kein Ruhmesblatt. Fast die gesamte Schülerschaft wurde Zeuge ihres schmählichen Abgangs. Es läutete. Die Klingeltöne trieben heute die ganze Schülerschaft ohne Drängeln und Schreien in die Flure. Den meisten saß die Neugier noch immer im Nacken. Pit blieb nach wie vor zurückhaltend. Ihm genügte vorläufig die Berührung von Melis Hand. Sie mussten in einen der oberen Klassenräume, die man inzwischen gesäubert hatte. Keine Spur einer Verschmutzung ließ sich entdecken, sie sahen aus wie immer. Das dämpfte auch das Verdächtigungspotenzial und wirkte beruhigend. Frau Helmer, nicht verwandt mit dem einen der Unholde, empfing sie an der Klassentür und spähte in die Runde. Als sie Nicki entdeckte, winkte sie sie zur Seite, sagte ihr etwas und schickte sie fort. Das nährte erneut den Boden der Spekulationen. Man tuschelte sofort wieder. Eine der wöchentlichen Religionsstunden stand auf dem Plan. Im Allgemeinen brauchten die, die sich nicht zum evangelischen Glauben bekannten, nicht teilzunehmen, aber heute fehlte keiner. Dazu gehörten Giuseppe, der der römisch-katholischen Kirche angehörte, und Sheila, eine Muslimin türkischer Abstammung. Frau Helmer sah es gern, denn sie vertrat die Auffassung, dass sich gläubige Menschen so besser verstehen lernen. Ihre Themen hatten oft nur indirekt etwas mit Glauben zu tun. So auch heute. Noch hatte sie den Unterricht nicht begonnen, als eine erneute Störung für Aufregung sorgte. Die Schulsekretärin erschien und forderte Helena und Bea auf, sich im Sekretariat zu melden. Noch im Weggehen der Beiden höhnte Fauli laut:
„Das Rauchertrio wird zum Rapport geladen“,
was vereinzelt mit Lachen bedacht wurde.
„Da wisst ihr ja mehr als ich“,
kommentierte die Lehrerin die Unruhe.
„Wenn ihr Recht haben solltet, haben wir heute das passende Kontrathema zu dieser Art, sich schon frühzeitig mit Teer und Nikotin krank zu machen.“
„Gesund essen, gesund leben“,
schrieb sie an die Tafel, um den Unterricht wieder auf den Punkt zu bringen. Mit etwas Mühe und Geduld gelang ihr das auch. Sie besaß das Geschick, die Probleme vieler Jugendlicher so darzustellen, dass der Eindruck entstand, sie selber, also alle, die es anging, müssten etwas unternehmen, um aus ihrem Dilemma herauszukommen. In erster Linie betraf das natürlich Dicki, der auch offen gestand, endlich mit der Völlerei aufhören und sich mehr bewegen zu wollen. Fauli konnte es nicht lassen, sein Geständnis zu kommentieren.
„Lass dich nicht immer von deiner Mutter in die Schule kutschieren, du fauler Sack. Schwing dich aufs Rad wie Pit, dann bist du bald schlank wie eine Tanne!“
„Bis auf die Tatsache, dass man nicht unaufgefordert in die Klasse quatscht, Herr Faulstich, hast du schon eine Möglichkeit für gesundes Leben genannt.“
Mit dieser teils ironischen Bemerkung wies ihn die Lehrerin zurecht, doch sie ließ auch sein Argument gelten. Es gab aber auch korpulente Mädchen, die zwar gern schlank gewesen wären, aber nichts dafür taten. Ihnen schien das heutige Thema weniger zu passen. Die Helmer wollte aber weniger auf die sportliche Betätigung eingehen, ihr ging es um gesunde Kost. Sie schlug deshalb vor, im Rahmen eines Projektes verschiedene Varianten eines adäquaten Frühstücks zu untersuchen, dabei könnte auch die türkische oder die italienische Küche Pate stehen. Mit diesem Hinweis nahm sie Bezug auf die Gäste und erreichte prompt, dass Giuseppe und Sheila sich als Erste für das Projekt meldeten. Als Nächster folgte Dicki. Es wurde gelacht.
„Ihr werdet schon sehen, dass ich kann, und meine Hilfe braucht ihr sowieso“,
verfiel er wieder in seinen gönnerhaften Stil. Er spielte damit auf das Internet an, von dem er glaubte, er sei der Einzige, der damit umzugehen wusste. Wieder wurde der Unterricht von außen gestört. Der Rektor erschien mit den drei Mädchen im Schlepptau. Er las das Stundenthema an der Tafel, schnappte das Wort „Projekt“ auf und erklärte; „Die jungen Damen haben offenbar mit der gesunden Lebensweise ein Problem. Von ihnen erwarte ich, dass sie sich besonders engagiert an diesem Projekt beteiligen. Außerdem schreiben sie eine Abhandlung über das Thema: ‚Die schädigende Wirkung des Rauchens auf den jugendlichen Organismus‘. Die Beiträge werden der Dokumentation des Projektes beigefügt."
Die Drei schlichen mit betretener Miene auf ihre Plätze. Weder Schadenfreude noch Mitleid begleiteten sie, doch die erneut entstandenen Turbulenzen brachten das Konzept der Pädagogin vollkommen durcheinander. Sie ließ kurzerhand eine Liste durch die Reihen gehen, in die sich die Interessenten für das Vorhaben eintragen sollten, um wenigstens die Teilnehmer namhaft zu haben. Die knappen Minuten bis zum Stundenschluss widmete sie einer Ausschreibung der Landesregierung zum Thema „Das Leben der Menschen am Ende des Zweiten Weltkrieges“. Als Preise für den vorgesehenen Wettbewerb innerhalb der Schulen des Landes wurden Geldprämien, Gruppenreisen und ein Empfang bei der Landesregierung angekündigt. Bis auf Meli, Bingo und Pit stieß das Angebot kaum auf Interesse. Sie gab den Dreien die Unterlagen mit der Überzeugung, dass sie auf fruchtbaren Boden fallen würden. Ergänzend wies sie noch auf die zur Verfügung stehende Zeit hin. Meli übernahm die Mappe und damit auch gleich die Regie. Bingo und Pit hatten nichts dagegen, im Gegenteil, versprach sich doch Pit viele gemeinsame Stunden mit ihr.
Wie von einem Virus verursacht, machte sich schleichend ein unbekanntes Gefühl breit, wenn er nur an sie dachte. Noch konnte er es nicht eindeutig definieren. Es handelte sich um ein Gemisch aus Sehnsucht, Unbeschwertheit, Glück und er fühlte sich unbeschreiblich wohl dabei. Als es klingelte, suchte er sofort Melis Nähe. Viele scharten sich jetzt neugierig um Nicki, die die ungewohnte Aufmerksamkeit der anderen genoss. Das machte Pits Vorhaben leichter. Meli, die interessiert in der Mappe blätterte, saß deshalb allein. Mia, ihre Banknachbarin, war verschwunden. Pit zwängte sich auf ihren Platz. Mutig und doch unsicher griff er nach ihren Arm und hangelte runter bis zu ihrer Hand. Sie ließ es geschehen. Ihn durchrieselte ein Schauer. Er spürte ihre Wärme, das erste Mal mit allen Sinnen. Dann erwiderte sie seinen Druck. Jetzt wäre er am liebsten aufgesprungen und hätte laut gejubelt, aber Mia kam zurück. Instinktiv wollte er Meli loslassen, doch diesmal hielt sie ihn fest. Mia stand daneben, sah alles und guckte verschämt weg.
„Mia