„Wir können dir auch helfen“,
bot ihm Pit an, und Fauli nickte zustimmend.
„Ihr seid doch alle im Urlaub, wenn es losgeht, mein Bruder hat jetzt noch keine Zeit“, wimmelte er viel sagend das Angebot ab. In Wirklichkeit stand ein anderer Grund dahinter. Er schämte sich für die häuslichen Zustände. Trotz größter Mühen seiner Mutter hatte sich kaum etwas an dem heruntergekommenen Haus geändert. Sein Vater vertrank oft das wenige Geld und rührte zu Hause keinen Handschlag. Dass sein Bruder, der als Fliesenleger in Hamburg tätig war, in der alten Speisekammer ein Bad einrichten wollte, galt als ein Bahn brechendes Ereignis in seiner Familie. Besonders seine Mutter, die unter dem jetzigen Zustand am meisten litt, verbreitete eine ansteckende Begeisterung. Stinkis eigene Zielstellung bestand darin, möglichst viel selbst dazu beizutragen. Sein Stolz verbot ihm, die Hilfe seiner Freunde anzunehmen. Das Gespräch in der Clique lief auseinander, der eigentliche Grund für ihr Zusammentreffen in der Kuhle hatte sich aus dem Staub gemacht. Fauli verließ als Nächster das Trüppchen. Dann ging auch der Rest. Pit schob sein Rad, begleitete Meli und Stinki, die zu Fuß gekommen waren. Man redete belangloses Zeug oder schwieg auf dem Rückweg. Pit drängte sich immer wieder in Melis Nähe und versuchte krampfhaft, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Nur kurz berühren, das misslang bis auf ein einziges Mal. Sie erwiderte seine Annäherung mit einem Lächeln. Dabei wurden ihm fast die Knie weich. Taumelnd lief er bis zur Bachbrücke mit, den Ort der Trennung. „Tschüss bis morgen“,
rief ihm Stinki zu, und sie ließ, unbemerkt von ihm, ein Handküsschen zu Pit fliegen. Ihre Wege schieden sich jetzt. Wie angewurzelt verharrte er eine Weile und starrte hinter ihr her, auch als sie längst im Garten ihres Hauses verschwunden war. Er fühlte sich noch immer wie im Rausch, als er daheim ankam. Ganz gegen seine Gewohnheit stellte er sein Fahrrad diesmal gleich in die Garage, hob sogar Jules Bike vom Boden auf und schob es neben seins. In seiner Bude streifte er ein frisches T-Shirt über. Dem Zustand der Entrückung folgte wenig später ein unbändiges Glücksgefühl und weckte in ihm unversehens Eigenschaften aus seiner Kindheit, die er eigentlich schon seit einigen Jahren als lästigen Ballast über Bord geworfen hatte. Seine Mutter lud ihn zum gemeinsamen Abendbrot ein. Wider Erwarten folgte er ihrer Bitte. Vorher wusch er sich die Hände gründlicher als sonst, dann bot er Jule seine Hilfe während des Tischdeckens an, verbunden mit einem überschwänglichen Kuss auf deren Wange. Überrascht von der ungewohnten Charmeattacke ihres Bruders, keifte sie gleich los: „Der Pit spinnt heute, den hat bestimmt eine Zecke gebissen!“
„Ja, Schwesterchen, wie recht du doch hast“,
flötete er und verpasste ihr einen weiteren Knutscher.
„Iih, ist ja ekelhaft!“,
wehrte sie halbherzig ab, um ihr Gezicke schlagartig gegen Neugier einzutauschen. „Mama, mit dem Pit stimmt etwas nicht, kannst du das mal rauskriegen?“
Aber die machte selbst ein ratloses Gesicht, auch sie war irritiert. Am Tisch reichte er das Brot herum und goss seiner Schwester Saft ins Glas. Höflich, fast charmant, erkundigte er sich nach dem Verbleib seines Vaters. Doch noch wurde gegessen und nicht geredet, wie es allgemein die Sitte vorsah. Mit Eifer half er danach beim Abräumen, freundlich, ohne auf die Antwort zu drängen. In der Hoffnung, etwas über den Grund des ungewöhnlichen Verhaltens ihres Bruders zu erfahren, schlich Jule durch die Küche, aber ein anderes Thema versprach ihr keinen Erfolg.
„Der Papa kommt später, er ist noch im Gemeindeamt. Sie beraten zusammen mit dem Baron, Herrn Faulstich und dem Ortsbürgermeister. Auch Mias Vater soll wohl teilnehmen. Die Kerle haben sich in den Kopf gesetzt, die Windmühle in Ordnung zu bringen “, erwähnte die Mutter.
„Donnerwetter, da haben sie sich aber was vorgenommen!“,
lachte Pit, bevor er die Küche verließ.
„Jetzt haben wir nicht rausgekriegt, was mit ihm los ist“,
maulte Jule enttäuscht.
„Vielleicht ist er verliebt, da werden Jungen plötzlich anders, frag ihn doch selber.“ Wie Recht doch seine Mutter hatte, dachte Pit, die weiß Bescheid. Ihre letzten Worte erreichten ihn gerade noch. Draußen im Hof setzte er sich auf Omas Bank. Aus ihrem Zimmer drang die Musik von einer der alten Schellackplatten. Er hatte sie oft gehört, kannte sie auswendig und hörte sie auch immer wieder gern. Deutlich klang das rhythmische Klopfen der Hammerpolka durchs Fenster. Oma verheimlichte bisher, was sie mit dieser Melodie verband, denn sie spielte sie öfter als alle anderen Platten ab. „Sicherlich steckt eine Liebesromanze aus ihrer Jugendzeit dahinter, über die sie nicht sprechen will. Sie lebt bestimmt von der Erinnerung“,
mutmaßte Pit.
„Vielleicht entsinne ich mich im Alter auch an die heutige Begegnung mit Meli, es wird eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens werden. Ich muss sie hüten wie ein Juwel.“,
schwärmte er bei diesem Gedanken. Sein Vater trat zu ihm. Er hatte sein Kommen nicht bemerkt. Pit sprang auf, wollte Hof- und Garagentor schließen, doch er wurde von ihm zurückgehalten.
„Du verhältst dich heute sonderbar, wer hat dich denn so umgekrempelt?“
„Bin ich anders?“
„Ja, solche Freundlichkeiten von dir habe ich lange nicht erlebt. Du kannst dich wieder setzen, ich schließe die Türen selbst, damit ich es nicht verlerne.“
Jetzt staunte Pit. Merkte man ihm tatsächlich an, dass er verliebt war? Später vernahm er Wortfetzen von einem Gespräch zwischen seinen Eltern. Es ging um ihn und auch das Wort „verliebt“ kam darin vor. Seine Eltern lachten, also würden sie sich in solchen auffälligen Verhaltensweisen auskennen. Er pfiff die Melodie der Hammerpolka, fühlte sich frei und unbeschwert Den Abend fand er herrlicher als sonst. Irgendwann kam sein Vater wieder und setzte sich zu ihm auf die Bank.
„Mm“,
bemerkte er nach einer Weile,
„ich glaube, ich sollte dir von unserer Beratung erzählen, du bist alt genug, mein Sohn.“ Diese plötzliche Vertrautheit überraschte ihn plötzlich. Und Pit erfuhr so als Erster, was die Männer vorhatten. Sie wollten einen Rastplatz am Radwanderweg der Werla schaffen. Die Windmühle wäre dabei die Hauptattraktion. Man beabsichtige, sie so herzurichten, dass sie wie einst Getreide mahlen könnte, das man danach am gleichen Ort in einem Natursteinofen zu einem speziellen Mühlenbrot zu verbacken gedächte. Auch eine kleine Rastunterkunft in Form einer Blockhütte gehöre in die Planung. Noch wäre alles in der Phase der ersten Überlegungen und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Er hoffe, dass er als angehender Mann schweigen könne.
„Großes Indianerehrenwort“,
ein Versprechen, das bei ihm eine andere Bedeutung hatte als im allgemeinen. Sein Vater wusste das. Später überlegte er, was sein Erzeuger wohl mit dem „angehenden Mann“ gemeint haben mochte. Dachte er etwa, er hätte mit seinen fast vierzehn Jahren schon sexuelle Erfahrungen? Das verblüffte und erstaunte ihn gleichermaßen. Kannte ihn sein Vater so wenig? Andererseits - warum nicht? Er wusste aus der Schule, dass es Jungen in seinem Alter gab, die sich damit brüsteten. Ob sie die Wahrheit sagten oder nur angeben wollten, das interessierte ihn bisher wenig. Ihn drängte es noch nicht nach solchen Erlebnissen, und wenn, dann sollten sie sein Geheimnis bleiben. Er liebte keine billigen Abenteuer, für ihn gehörte das Sexuelle zu der Liebe, die man für ein Mädchen empfand, so hatte er es von seiner Oma gehört und bei seinen Eltern erlebt. Alles andere konnte er sich nicht richtig vorstellen. Sein Vater saß immer noch neben ihm, eigentlich ungewöhnlich. Er musste was auf dem Herzen Tragen, das für seine Mutter vermutlich wenig Bedeutung besaß. Pit überlegte. Hatte sie sich nicht beim Abendbrot abschätzig über das Vorhaben mit der Windmühle geäußert? Warum? Die Idee fand er doch bombig. Viele Leute der Umgebung würden sich dafür begeistern, denn das Vorhaben brächte ein wenig Abwechslung und Spaß in den langweiligen Dorfalltag.
„Wie habt ihr euch das vorgestellt, Papa? Die Leute, mit denen du zusammen gesessen hast, schaffen das doch niemals allein. Der Bankdirektor hat ohnehin zwei linke Hände, den würde ich gar nicht erst bemühen.“