Berücksichtigen Sie Ihre individuelle Diagnose und Prognose. Statistiken helfen Ihnen nicht, Ihre Überlebensprognose einzuschätzen. Sie wissen nicht, auf welcher Seite der Tabelle Sie stehen. Gehören Sie zu den 80 Prozent, die Ihre Krebsart überleben oder zu den 20 Prozent, die daran sterben. Selbst wenn Sie zu den 20 Prozent gehören sollten, wissen Sie noch lange nicht, zu welchem Zeitpunkt. Irgendwann sterben wir alle. Dieses Wissen verdrängen wir nur zu gern. Durch den Krebs leben lernen, könnte auch zu Ihrer Devise werden. Denn genau darin liegt das Potenzial einer Krebserkrankung. Ob Sie dieses Potenzial als eine Chance, eine Erlaubnis oder eine Notwendigkeit für die Reflexion über Ihr Leben annehmen, entscheiden Sie. Der Krebs schenkt Ihnen die Möglichkeit dazu. Sie können das Geschenk annehmen und sich fragen: Geht mein Leben in die richtige Richtung? Lebe ich wirklich ein Leben nach meinen Wünschen und Zielen? Wie soll es ab jetzt weiter gehen? Was wünsche ich mir für den Rest meines Lebens? Die Diagnose Krebs ist ein Geschenk, weil wir meist erst an diesem Punkt in unserem Leben spüren, wie wenig wir uns bisher wirklich mit den existenziellen Fragen beschäftigt haben und wie wenig sich unsere Antworten auf diese Sinnfragen in unserem Alltag widerspiegeln. Die Oberflächlichkeit des Funktionierens, des Leistungsdrucks und des materiellen Besitzes hat in unserem Leben meist die Oberhand. Das wissen wir unbewusst. In diese Wunde trifft der Diagnoseschock. Er erinnert Sie an Ihre Lebensaufgabe, Ihren Lebenstraum und Ihre Lebenswahrheit.
Die Überprüfung dieser Fragen benötigt Zeit, die Sie kurz nach der Diagnose vielleicht nicht haben, und sie ist der Anfang eines längeren Prozesses. Die Anzahl der Termine zu Beginn einer Krebserkrankung ist meist hoch und erlaubt nichts anderes, als zu funktionieren, einen Termin nach dem anderen zu überstehen und Neuigkeiten und Informationen immer wieder zu sortieren. Dass Sie keine Zeit zum Nachdenken haben, kann auch gut für Sie sein. Ihre Lebensfragen können Sie später reflektieren.
Um jedoch den Schock zu verkraften, sollten Sie sich zumindest Zeit nehmen und sich mit Ihren Annahmen über Krebs auseinander setzen. Die meisten Frauen ereilt die Schuldfrage spätestens, wenn sie mit der gesamten Gefühlspalette von Angst, Wut und Traurigkeit konfrontiert sind. Beschäftigen Sie sich mit den eigenen Gedanken und Bildern über Krebs. Gewöhnen Sie sich an Ihr neues Selbstbild einer „Krebspatientin“ – auch wenn Ihnen das schwerfällt. So können Sie sich aus der durch den Schock entstandenen Lähmung wieder heraus bewegen. Besinnen Sie sich auf Ihre bisherigen Überlebens-Strategien. So werden Sie wieder handlungsfähig und können im Laufe der Zeit die Diagnose Krebs annehmen.
Die Diagnose zu akzeptieren, Ihre Situation anzunehmen wie Sie ist, kann Ihre Heilung frühzeitig unterstützen. Der Brief einer Krebspatientin an ihren Therapeuten bringt dies auf den Punkt:
„In der Zeit zwischen Diagnose und Operation war ich einige Male bei Ihnen und ich habe sehr, sehr lange Zeit davon gezehrt. Sie waren es, dem es gelang, dass ich meine Krankheit akzeptieren konnte. Ein ganz wichtiger erster Schritt zur Heilung, denn ich ging mit positiven Grundgedanken in die Klinik und war fest von meiner Heilung überzeugt. Ich war so stark, dass ich selbst meine Bettnachbarin noch mitziehen konnte. Ich hatte später noch oft Gelegenheit, mein Verhalten und meine Einstellung mit der anderer Frauen zu vergleichen und stellte fest, dass ich vielen weit voraus war. Während Andere noch mit der Frage ‚Warum gerade ich?’ haderten, habe ich mir zum einen diese Frage nie gestellt und zum anderen bereits an meiner auch seelischen Genesung gearbeitet. Den Startschuss hierfür und vor allem für meine positive Grundeinstellung zur Krankheit habe ich von Ihnen erhalten. Das war die Basis für alles, was danach kam. Ich bin glücklich (auch wenn ich jetzt, aufgrund der Rückschau, weinen muss). ... Ich sende Ihnen ganz herzliche Grüße verbunden mit einem großen Dankeschön für Ihre Arbeit an meiner Seele!“
Beziehen Sie Ihr gewohntes und persönliches Umfeld in die Bewältigung der Diagnose mit ein. Sprechen Sie vor allem mit den Menschen aus Ihrer Familie, Ihrem Bekannten- und Freundeskreis, von denen Sie annehmen oder wissen, dass Sie mit Hiobsbotschaften umgehen können. Meiden Sie Menschen, die auf Ihre Nachricht selbst geschockt reagieren und damit bewirken, dass Sie Ihre eigene Situation relativieren und Sätze wie „es ist gar nicht so schlimm“ sagen. Sie sind diejenige, die Zuspruch, Ermutigung und Trost benötigt, am besten von Menschen, die in der Lage sind, Ihnen diesen Halt zu geben. Menschen, die Kraft und Stärke dafür haben, Sie zu begleiten und bereit sind, schwierige Situationen mit auszuhalten. Die nicht in Tränen ausbrechen und nur sich selbst bemitleiden, weil sie eine Frau, Freundin, Mutter oder Tochter haben, die an Krebs erkrankt ist. Menschen, die selbst an Krebs erkrankt waren, die Erkrankung überlebt und sich damit auseinander gesetzt haben, haben oft den Mut und die Klarheit, sich einer solchen Situation zu stellen. Von Krebs Betroffene können meist ohne Tabus und ohne Ängste zuhören und mit Ihnen im Gespräch bleiben. Suchen Sie sich solche Verbündete.
Im Hier und Jetzt zu bleiben – vor allem gedanklich – können Sie in der Schockphase zusätzlich trainieren. Sie sind noch am Leben, Sie atmen noch, Sie sind noch da. Momentan bietet sich keine Fluchtmöglichkeit für Sie. Nur die Möglichkeit, sich mit Ihren eigenen Strategien und mit Gesprächen zu entlasten. Hilfreiche Übungen, um im Hier und Jetzt zu leben, finden Sie im Kapitel Lebensluststrategien. Wenn Sie es immer wieder schaffen, in den jetzigen Moment zurückzukehren und im Hier und Jetzt zu leben, können Sie entspannen und zur Ruhe kommen. Sie lernen, mit der Diagnose Krebs in der für Sie richtigen Art und Weise umzugehen. Das ist Voraussetzung, um sie anzunehmen.
Meine Art, den Schock zu verkraften war, das Wort „Brustkrebs“ ganz oft auszusprechen, um es überhaupt „wahr“ zu nehmen und als die Wahrheit anzunehmen. Denn nach der Mitteilung des Arztes „Ich habe eine schlechte Nachricht für sie: Verdacht auf Brustkrebs“ fühlte ich mich tagelang wie unter einer Nebelglocke. Grundsätzlich fühlte ich mich nicht anders als vor der Operation und vor der Mitteilung des Arztes. Der Krebs war ja nicht zu spüren, nur ein Knoten und der sollte, zumindest nach den Befunden, harmlos sein. Nach einer ambulanten Operation und einer Woche Arbeitsunfähigkeit sollte alles erledigt sein. Plötzlich Krebs. Schlagartig war alles anders. Ich fing an, zynische Witze über Krebs zu machen, um irgendwie zu reagieren und sprach von meinem bevorstehenden letzten Geburtstag und von den Inhalten meiner Grabrede. Was den Schrecken in meinem Umfeld nur vergrößerte. Das Schlimmste annehmen war eine meiner Strategien. Vielleicht, um möglichst positiv überrascht zu werden, wenn ich den Krebs überleben sollte. Das Gefühl des „danach“ war sofort spürbar und alles was ich jetzt tat, stand unter einem anderen Stern.
In den Wochen nach meiner Diagnose traf ich mich häufig mit meinen Freundinnen. Ich prüfte, wie es „danach“ war, ob ich in den Beziehungen noch „dieselbe“ war, ob die Freundschaften die Schocknachricht aushielten oder es hier auch ein „danach“ gab. Wenn ich Freundinnen und Freunden, Familie, Kolleginnen und Kollegen sagte, dass ich Krebs habe, löste ich damit bei ihnen einen Schock aus. Nun war ich diejenige, die den Psycho-Schock verbreitete und kein Arzt. Ich konnte ihren Gesichtern die Ohnmacht ablesen. Ich musste Fragen über Fragen beantworten, um sie zu beruhigen. Schlagartig fühlte ich mich als „die andere“ und nicht mehr zu den Gesunden gehörig. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, der Krebs sei ansteckend, so ablehnend empfand ich manche Reaktion. Ich wollte mich weiter in der Rolle als Freundin, als Kollegin, als Frau, als Andrea und nicht als Krebspatientin erleben.
Nächtelang lag ich wach, wälzte mich hin und her und hatte Albträume: Mein Haus wurde von Gangstern mit Gewehren überfallen. Ich kämpfte wild und konnte nach einem Giftgasanschlag auf mein Haus in die Gartenlaube entkommen. Ich setzte mich in einen Sportwagen und holte die Polizei. Die ließen sich Zeit. Meine Familie war noch im Haus. Als das Polizeiaufgebot an meinem Haus ankam, waren die Gangster weg. Doch mein Haus war von vielen dubiosen Typen belagert.