Das Erbe im Keltengrund. Ariane Nasskalt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ariane Nasskalt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004045
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      Überrumpelt …

      Ulf lümmelte auf dem Sofa. Unter seinen schmerzenden Kopf hatte er ein Kissen geschoben. Gestern Abend hatte er dringend Gesellschaft gebraucht und darauf gehofft, im Dorfkrug etwas Zerstreuung zu finden. Normalerweise würde er sich jetzt eine Bloody Mary mixen, auch Simone schwor auf die belebende Wirkung dieses Cocktails. Aber hier konnte man ja schon froh sein, wenn man einen selbst gemachten Kirschsaft im Keller fand. Und diesen würde er nicht nur deswegen meiden, weil dessen Grundsubstanz seiner Tante zum Verhängnis geworden war.

      Ulf rieb sich die Schläfe. Die schenkten in der Dorfkneipe aber auch einen schweren Rotwein aus. Der hatte ihm schon nach kurzer Zeit Nebelschwaden ins Gehirn geblasen. Hoffentlich war er im Laufe des Abends nicht genauso redselig geworden wie der pensionierte Lehrer, der sich zu ihm gesetzt hatte. Ulf war der spöttische Zug um die Mundwinkel der Wirtin nicht entgangen, der soviel aussagte wie: „Nun hat der Heimattümmler wieder ein Opfer gefunden.“ Aber in der Stimmung, in der er sich am gestrigen Abend befunden hatte, war es ihm lieber gewesen, mit halbem Ohr einem Hobbygeschichtsforscher zuzuhören, als auch noch im Wirtshaus allein am Tisch zu sitzen.

      Der Inhalt der bis jetzt gelesenen Briefe hatte keinerlei Erklärung dafür geliefert, warum sie aufgehoben worden waren. Nie hätte er sich gedacht, dass er sich einmal für das Vorleben seiner Tante interessieren könnte! Hier lebten aber auch Unikate. Auch diese Mayer tickte nicht ganz richtig. Ihr allwissendes Getue nervte ganz schön. Auf seine Bemerkung, dass es ihm hier ein wenig so vorkam, als sei er in einer ganz anderen Welt, hatte sie doch tatsächlich geantwortet:

      „Ja, die andere Wirklichkeit dringt besonders an solchen Orten zu uns durch.“

      Trotz ihrer leichten Verwirrtheit war er ihrer aufgesetzten Freundlichkeit mit ebensolcher Höflichkeit begegnet. Diese Frau beherrschte die Kunst, andere zu gängeln. Anders als Simone, die andere gerne mit ihren Argumenten überfuhr oder die Empathische spielte, hatte sie ihm Brei über den Mund geschmiert. Bevor er realisieren konnte, worauf er sich einließ, hatte er zugesagt, dass ihr Sohn weiterhin auf den Hof kommen dürfe. Die Bedeutung ihrer Worte: „Raimund ist sehr zuverlässig und wird ohne Aufforderung jeden Tag erscheinen!“, war ihm erst hinterher aufgegangen. Na ja, wenn dieser Bursche ihm allzu sehr auf den Leib rücken würde, konnte er ihn ja jederzeit nach Hause schicken. Und sie hatte ja recht, Vorteile bot dieses Abkommen für ihn ja auch. Schließlich verlangte er kein Geld, war nach Auskunft seiner Mutter mit einem guten Vesper vollauf zufrieden und er bekam dafür frisch gestrichene Fensterläden und Türen, eine gemähte Wiese und wer weiß, was sonst noch.

      Dumm war nur, dass er schon heute kommen wollte – am Samstag! Zurzeit lief aber auch alles verquer. Vor dem Gasthof war ihm Notar Haussmann über den Weg gelaufen. Noch bevor er auf dessen vorwurfsvoll ausgesprochene Mitteilung

      „Wir haben mehrmals versucht, Sie auf Ihrem Handy zu erreichen“ mit:

      „Ich habe auf dem Hof keinen Empfang!“, antworten konnte, hatte er ihn darüber aufgeklärt, dass er den für den morgigen Tag angesetzten Termin verschieben musste. Offenbar wollte ihm irgendein Tierarzt einen Teil des Erbes streitig machen. Und da dessen Anwalt erst in zwei Wochen aus dem Urlaub kommen würde, hatte er um Geduld gebeten. Wahrscheinlich hatte sich dieser Hallodri bei seiner Tante eingeschmeichelt. Aber warum sich jetzt schon Sorgen machen, gewöhnlich wurde heißer gekocht als gegessen. Eigentlich war so eine Terminverschiebung ja auch nicht tragisch. Das Haus würde sowieso besser zu verkaufen sein, wenn der junge Mayer mit seinen Retouchierarbeiten fertig war.

      Seine Kopfschmerzen hatten sich beim Eintreffen seines Helfers nur ein wenig gebessert. Auf sein „Schön, dass Sie gekommen sind!“, antwortete Raimund zu Ulfs Überraschung mit „Ja!“. Und obwohl der junge Mann zwei Werkzeugkisten bei sich trug, was auf Handwerkerwissen und Sachkenntnis schließen ließ, schien er nicht besonders geschickt zu sein. Als der schlaksige Hüne die Leiter aus der Scheune holte und mit ihr durch den hohen Grasbewuchs zum Haus stapfte, stolperte er fast über seine eigenen Füße. Wenigstens maulte er nicht, als Ulf ihm zum Abschleifen der Farbe anstatt einer Maschine Schleifpapier übergab, das er beim Durchstöbern des Hauses im Keller gefunden hatte.

      „Momentan gibt es keinen Strom hier“, meinte er diesen Umstand erklären zu müssen. Raimund Mayer antwortete nichts, sah ihn nicht einmal an, weshalb Ulf hinzusetzte: „Wenn Sie wollen, können Sie ja zur Abwechslung zwischendurch das Gras mähen.“

      Doch der junge Mann blieb stumm vor ihm stehen und stierte beharrlich an ihm vorbei. In Ulf machte sich Wut breit: Die Mayer hatte ihm ihren schwachsinnigen Sohn wohl nur deshalb aufgehalst, weil sie ihn tagsüber aus dem Haus haben wollte. Zu seiner Überraschung drehte sich der stumm Gebliebene plötzlich um, stieg die am Haus angelegte Leiter hinauf, hängte den ersten Laden aus und legte ihn auf der vergrauten Holzbank ab. Langsam, aber systematisch arbeitend, schliff er die Farbe ab. Die Arbeit schien ihn so gefangen zu nehmen, dass er Ulfs Frage

      „Soll ich Ihnen ein Bier oder lieber ein Saftschorle bringen?“

      nicht zu hören schien. Auch zwei Stunden später hatte sein Arbeitseifer noch nicht nachgelassen und am Abend musste er ihn regelrecht nach Hause schicken.

      Gleich, nachdem Raimund den Hof verlassen hatte, fuhr Ulf wieder zum Dorfkrug. Er hatte zwar sämtliche leeren Einweckgläser, die er im Haus hatte finden können, mit Kerzen bestückt und in allen Wohnräumen verteilt, aber bei Schummerbeleuchtung alleine den Abend zu verbringen, war für ihn unvorstellbar.

      Wie schon am gestrigen Tag war um diese Uhrzeit nur der Stammtisch besetzt. Und obwohl er nach der Begrüßung unschlüssig vor der Altherrenrunde stehen blieb, rückten sie auch jetzt nicht zusammen. Frustriert setzte er sich wieder an den Ecktisch. Die Befürchtung, dass er die nächsten Tage ebenso ungesellig verbringen musste, setzte bei ihm Fluchtgedanken frei. In diesem Nest würde er noch versauern. Die Möglichkeit, mit dem Auto in die 25 km entfernt gelegene Stadt zu fahren, war auch keine annehmbare Alternative, weil er dort keinen Alkohol trinken durfte. Die Mayer hatte ihn gewarnt, angeblich kontrollierte die Polizei die Zubringerstraße ungewöhnlich oft, was Ulf diesem verknöcherten Polizisten zuschrieb. So nach und nach bevölkerten einige Pärchen und auch eine Gruppe Jugendlicher den Gaststättenraum, aber niemand setzte sich zu ihm. Den Stammtischlern hatte er bewusst den Rücken zugekehrt, er folgte auch nicht ihrer Unterhaltung. Stattdessen hing er weiter seinen Gedanken nach, klinkte sich zwischendurch bei der am Nebentisch geführten Diskussion über die Staatsverschuldung ein, konnte aber beim anschließenden Geplauder über lokale Angelegenheiten nicht mehr mitreden. Aus Langeweile leerte er ein Bierglas nach dem anderen. Früher als ursprünglich geplant verließ er die Lokalität.

      Vorm Eingang standen zwei Gäste rauchend zusammen. Als einer von ihnen mit einem „Schönen Abend auch noch!“ grüßte, hätte er am liebsten laut geflucht. Da stand doch tatsächlich dieser wenig dienstbeflissene Polizist – obwohl er in zivil war, erkannte Ulf ihn sofort – und blickte ihm breit grinsend entgegen. Fix luja aber auch, das nächste Mal würde er um die Ecke parken. Unter dem hämischen Blick von Konrad Schmieg schloss er sein Auto auf. Danach drehte sich Ulf betont langsam um und erwiderte den Blickkontakt mit einem schiefen Lächeln. Nach einer weiteren Verzögerungsminute fingerte er nach seiner Taschenlampe und schmiss die Autotüre schwungvoll zu.

      Obwohl er nur dreißig Minuten Fußweg vor sich hatte, kam ihm der Heimweg unendlich lang vor. Es gab zwar eine Abkürzung durch den Wald, aber da die Taschenlampe zwischendurch immer wieder flackerte und ihm selbst schon bei der – allerdings dürftigen – Straßenbeleuchtung nicht ganz wohl war, verwarf er diesen Gedanken wieder. Sein Groll gegen den Polizisten wuchs mit jedem Schritt. Warum hatte er ausgerechnet heute in der Wirtschaft sein müssen? Ab und zu hörte er am Waldrand ein Rascheln und mehr als einmal huschte ein dunkler Schatten über die schmale Straße. Die schnell über den Mond hinweg ziehenden Wolken und das Rufen des Waldkauzes unterstrichen die gespenstische Stimmung, weshalb Ulf seine Gangart beschleunigte. In Hamburg fühlte er sich auch nachts in den entlegensten Winkeln sicher, aber hier reagierten seine Nackenhaare auf jedes unbekannte Geräusch. Er atmete auf, als endlich die Baumformation, die die Zufahrt zum Hof umsäumte, vor ihm auftauchte. Obwohl er auf dem Trampelpfad,