»Ich nehme an, dass sie das bereits wissen. Sie haben doch sicherlich zugesehen, als wir ihm die Kugeln aus dem Körper geschält, seine atrophierte Lunge wieder aufgebaut, seine Schädelwunde versorgt und ihn dreimal reanimiert haben. Stones, dieser Mann war dreimal quasi tot! Was ist das hier für eine Scheiße, in die Sie mich reingeholt haben?«, schrie sie nun, lauter als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.
»Mrs. McPherson…Meghan. Sie haben ihrem Land und dem MI6 einen unermesslichen Dienst erwiesen. Wieder mal. Seien sie gewiss, dass wir das nicht vergessen werden«, fing Stones an. Weiter kam er nicht. Denn Meghan war, übermüdet und schlecht gelaunt wie sie nun war, gerade dabei, wieder Fahrt aufzunehmen. »Sparen sie sich das Gesülze. Habe ich gerne gemacht. So, reicht ihnen das? Dann würde ich mich jetzt gerne verabschieden und ins Bett gehen«, sagte sie nur, während sie sich an Stones vorbei in Richtung Ausgang bewegte. Kurz zögerte sie und rief ihm über die Schulter zu: »Ich will hoffen, dass er es wert ist.«
Mit einem sollte Megan Recht behalten. Alex Older saß tatsächlich die gesamte Operation über an seinem Schreibtisch und blickte gespannt auf den Monitor, der ihn alle Handgriffe Meghans und des OP-Teams beobachten ließ. Am Ende saß er nassgeschwitzt vor Anspannung in seinem Sessel und war heilfroh, dass sie es wieder mal geschafft hatte. Er mochte ihn und er sah etwas in diesem Jungen. Außerdem passte er perfekt in das Profil eines Agenten, das er im Auge für einen Einsatz in Deutschland hatte. Meghans Abschlussdossier sagte ihm, dass Michael Zain selbst bei idealem Heilungsverlauf mindesten acht bis zehn Wochen brauchen würde, um wieder einigermaßen auf dem Damm zu sein. Etwaige Hirnschäden durch den Kopftreffer noch nicht berücksichtigt. Aber Older hatte Zeit. Und er wich nur ungern von einem Plan ab, wenn er sich erst einmal entschieden hatte.
Kapitel 2
Drei Wochen später…
Als Michael die Augen öffnete, war alles um ihn herum in ein glänzendes, gelles Weiß gehüllt. Es war so hell, dass es ihm wie Messerstiche durch die Augenhöhle direkt in sein Hirn stach. Er schloss die Augen sofort wieder und fiel in einen leichten Schlaf. Darin hatte er Bilder von seinen Eltern, Schulfreunden, seiner ersten Liebschaft. Dann wechselte das Szenario und er lief wie fremdgesteuert auf einen Abgrund zu. Im letzten Augenblick stoppte er. Als ob ihn der Traum selbst verhöhnen wollte, zwang ihn eine unsichtbare Macht, für einen unendlich langen Augenblick in den Abgrund zu blicken, nur um dann doch den entscheidenden Schritt zu gehen und zu fallen.
Nassgeschwitzt wachte er auf. Es war nun nicht mehr ganz so hell und er konnte erkennen, dass er sich in einem steril wirkenden Raum befand. Er lag in einem einfachen Bett, über ihm baumelte ein Bügel, an dem er sich hochziehen konnte. Links von ihm befand sich ein Fenster, rechts von ihm die Tür, die aus dem Raum führte. An seinem Bett saß ein älterer Mann, den er auf Mitte 60 schätzte. Er war in einen altmodischen Dreireiher gekleidet, hatte graues, mittelanges Haar, einen zurechtgestutzten, grauen Bart und vor seinen freundlich-schalkigen braunen Augen ruhte eine runde Brille auf seiner Knollennase.
»Sehr gut, sie sind wach. Erinnern sie sich daran, wer sie sind? Und vielleicht an mich?«, sprach er mit ruhiger, freundlicher Stimme die, wie Michael fand, gut zu ihm passte. »Ich bin Michael Zain, Soldat der britischen Armee und…«, Michael dachte nach, ob er die weiteren Informationen einfach so ausplaudern sollte. Er sah sich den Mann nochmal genau an, kannte ihn aber nicht. » Nein Sir, leider nicht. Kennen wir uns? Sagen sie, warum liege ich im Krankenhaus?«, fragte Michael. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. »Sie wurden angegriffen. Man hat sie angeschossen. Konzentrieren sie sich.«
Aber Michael konnte sich an nichts dergleichen erinnern. Er schüttelte den Kopf. »Mein Name ist Alex Older, ich bin der Leiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6. Mit Jack O`Connell haben wir einen gemeinsamen Freund.« Michael nickte. Dieser Name sagte ihm etwas.
Dann wurde er mit einem Schlag sehr müde und schaute Older mit großen Augen an. »Das macht nichts mein Junge. Ruhen sie sich aus. Wir haben später noch alle Zeit der Welt, um zu reden«, sagte Older mit gutväterlicher Stimme, drückte die Hand seines Agenten und verließ den Raum.
Hinter der Wand, die in Wirklichkeit ein blinder Spiegel war, standen Josh Stones und Meghan McPherson und warteten, dass sich Older zu ihnen gesellte. »Das ist nicht gut. Offenbar hat er durch den Kopfschuss ein Trauma erlitten, das sich in einer partiellen Amnesie auswirkt. Wir müssen ihn intensiv beobachten und das, was er sagt und tut genau dokumentieren. Haben sie verstanden?«, rede Meghan eindringlich auf den Leiter des MI6 ein. »Er kann sich jederzeit wieder erinnern. Entweder bruchstückhaft oder, im schlimmsten Falle, auf einen Schlag. Was sie auch tun, schicken sie ihn auf keinen Fall zu früh in einen Einsatz. Was sie definitiv nicht gebrauchen können ist ein psychisch instabiler Agent, der mitten in seinem ersten Einsatz die Erkenntnis erlangt, dass seine Frau und Kinder von Terroristen ermordet wurden und man ihm in den Kopf geschossen hat«, schob sie nach. Alex Older nickte und versprach, Michael die Zeit zu geben, die er brauchen würde, um zu genesen. »Alles weitere werden wir Stück für Stück angehen. Wenn er soweit ist, werde ich ihm alles erzählen, was er wissen muss«, versprach er der Ärztin.
Meghan war nicht überzeugt, wollte aber für den Moment auch nichts mehr dazu sagen. »Na schön. Ich werde sie jetzt wieder verlassen, wenn sie keine Fragen mehr haben. In meinem Dossier steht alles, was ich Ihnen an medizinischer Relevanz über den Patienten sagen kann. Ach und Sie denken doch an unser Arrangement, oder?«, fragte sie mit spitzbübischem Grinsen im Gesicht. Josh Stones sah sie mit leerem Blick an und nickte leicht. »Miss McPherson, allein diese Frage beleidigt uns. Wir werden Ihnen einige attraktive Immobilien zusammenstellen und Sie können sich für ein Anwesen ihrer Wahl entscheiden.«
»Gentleman, ich danke ihnen. Einen wunderbaren Tag wünsche ich«, sagte Meghan knapp und verließ den Raum.
Als sie weg war, wendeten sich Stones an seinen Vorgesetzen. Auch wenn er die Antwort des alten Mannes bereits kannte, musste er seine Sorge doch aussprechen. »Sollten wir das wirklich tun? Ihr ein Haus auf dem Land schenken, auf Kosten des Steuerzahlers?«
»Eine Hand wäscht nunmal die andere. Und sie ist die Beste, die es gibt. Das haben sie selbst gesagt«, erwiderte Older. Ohne wirklich überzeugt zu sein, erkannte Josh Stones aber auch, dass Michael ohne ihre Taten im OP wahrscheinlich nicht mehr am Leben sein würde. Irgendetwas mochte der Alte an dem jungen Agenten. Für Stones, der Zwischenmenschlichkeit nie verstanden hatte, war diese Sympathie fremd. Jedoch hatte dies nichts mit Michael als Person zu tun, sondern bezog sich auf jede zwischenmenschliche Interaktion. Was dies anging war Stones mehr ein Roboter als ein Mensch, was ihn in letzter Instanz wahrscheinlich auf den Posten gebracht hatte, auf dem er nun saß. Ein perfekter Analytiker, der jede Situation rational einordnen konnte. Genau jemanden wie ihn hatte Older gesucht und, nach dem Verschwinden seines alten persönlichen Sekretärs, letztendlich auch gefunden. »Gut. Wie geht es nun weiter?«, fragte Stones.
Older stand von dem Stuhl, auf dem er nun eine geraume Zeit gesessen hatte, auf, ging zur Türe und sagte im Gehen: »Bereiten sie die Mission "Atom" vor, leiten sie alles Notwendige in die Wege und tragen sie alle relevanten Informationen zusammen. Ich werde ein paar Gespräche mit Michael führen, und wenn ich denke, dass er soweit ist, wird er mit seinem Training beginnen. Mein Plan sieht vor, ihn in einem Monat nach Deutschland zu schicken.«
Stones wollte mit Verweis auf Meghans Einschätzung intervenieren, wusste aber, dass dies ein sinnloses Unterfangen gewesen wäre. Hatte sich Alex Older etwas in den Kopf gesetzt, brauchte es deutlich mehr als die Sorge seines Sekretärs, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. »Sehr wohl, Sir. Ich werde alles in die Wege leiten. Aber Sir…«, Stones rang mich sich und brachte sein Anliegen dann aber doch hervor: »…nehmen sie ihn nicht zu hart ran.«
Older besuchte Michael nun mehrmals in der Woche, beobachtete die Genesung seines potentiellen neuen Agenten und führte viele Gespräche mit ihm. Mal leichte Kost, dann wieder Hinweise und Informationen über den Anschlag. Er tastete sich langsam vorwärts.