Michael brauchte Gewissheit. Er rannte zum Tisch, nahm Cathy und danach ihre beiden Brüder in den Arm, küsste sie und spürte, wie bereits alles Leben aus ihnen entwichen war. In der Stirn jedes der drei Kinder befand sich ein kleines Einschussloch. Michaels Instinkte wurden durch die Wut, die die Trauer in diesem Moment aus seinem Körper verbannte, aktiviert und er prüfte den Winkel der Einschusslöcher. Als er das Küchenfenster inspizierte, durch die die drei erschossen worden waren, sah er, wie auf der anderen Straßenseite ein Fenster im dritten Stock geschlossen wurde. Michael rannte zur Treppe, um seine Pistole aus dem Schlafzimmer zu holen.
Jedoch erreichte er die Treppe nicht mehr. Auf halbem Wege sprengte die Haustüre auf und zwei mit Sturmhauben maskierte Männer betraten sein Haus. Geistesgegenwärtig griff Michael eine Schale, die auf dem Sideboard im Flur stand und warf sie einem der Männer entgegen. Er musste nah genug an sie herankommen, dann würde er es womöglich mit ihnen aufnehmen können. Aber dieser naive Gedanke war bereits vorbei, bevor er ihn zu Ende denken konnte. Während der eine Angreifer die Schale mit dem Schaft seines Gewehrs von sich schlug, hob der andere seine Pistole und schoss. Michael wurde mehrfach in Bauch und Brust getroffen und sank zu Boden. Durch den Schock spürte er nur wenig Schmerz, jedoch konnte er sich kaum noch bewegen. Mit letzter Kraft drehte er seinen Kopf Richtung Wohnzimmer, wo er seine tote Frau liegen sah. »Gleich bin ich bei euch«, tröstete er sich, während er spürte, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel. Offenbar füllte sich seine Lunge langsam mit Blut.
Einer der Männer trat aufreizend langsam an ihn heran und drehte ihn mit seinem Stiefel auf den Rücken. Michael erkannte schwarze Augen hinter der Sturmmaske, die ihn mit unverhohlenem Hass wie die Läufe zweier Pistolen anfunkelten.
»Du hast uns einmal dazwischengefunkt. Das wird dir nicht nochmal gelingen, du elender Hund«, hörte Michael den Mann auf Englisch sagen. Konnte er da einen leichten Akzent erkennen? Was war das? Französisch? Nein. Er kannte diese Art der Betonung. Damals, aus seiner Zeit im Irak. Die Maslawi aus der Gegend um Mossul sprachen auf diese Art, auch wenn sie sich immer Mühe gaben, möglichst sauberes Englisch mit ihm zu sprechen. Noch ein letztes Mal keimte Wut in ihm auf. Wut, über den Verlust seiner Familie. Wut darüber, diese Männer nicht mehr zur Strecke bringen zu können. Weiter kam Michael nicht mehr. Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, feuerte der Mann mit der Pistole zwei Schüsse auf ihn ab. Der erste ging in seine Brust, der zweite in den Kopf. Michaels Augen verdrehten sich und um ihn herum wurde alles friedlich weiß und still. Zufrieden verließen die Männer das Haus in der Albany Street und hinterließen nicht nur das Haus in Trümmern.
Kapitel 1
Megan McPherson hatte einen harten Tag hinter sich. Mit Fleiß, Ehrgeiz und dem unbedingten Willen, die beste auf ihrem Gebiet zu sein, hatte sie es zu einer der angesehensten Chirurgen in ganz England geschafft. Als an diesem Abend der Anruf von Josh Stones aus dem Hauptquartier des MI6 einging, war sie daher alles andere als begeistert, denn sie brauchte endlich Schlaf. Nach zwei mehrstündigen Operationen war sie körperlich und nervlich am Ende. Aber den persönlichen Sekretär des Geheimdienstchefs würgte man nicht einfach ab. »Was kann ich diesmal für den Alten erledigen?«, sagte Megan mit sichtlich gereiztem Unterton in der Stimme.
»Nun meine Liebe, wir haben hier einen Notfall und brauchen sie und ihre wunderbringenden Hände«, hörte sie die ihr wohlbekannte Stimme von Alex Older persönlich. Die Schamesröte trieb ihr ins Gesicht und einige Augenblicke war sie nicht in der Lage, auch nur ein Wort rauszubringen. »Verzeihen sie. Ich wusste nicht…«, weiter kam sie nicht, denn der alte Mann am anderen Ende der Leitung hatte bereits wieder das Wort ergriffen.
»Denke Sie nicht weiter drüber nach. Ich weiß selbst, dass ich nicht mehr taufrisch bin. Es geht nun aber im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod. Ein Wagen wartet bereits vor dem Krankenhaus auf sie und wird sie auf schnellstem Wege zu uns bringen. Ich bitte sie, beeilen sie sich«, sagte Alex Older eindringlich.
»Ich bin unterwegs, Sir«.
Meghan griff ihre Tasche, meldete sich kurz bei ihrer Station ab und lief dann schnurstracks zum Haupteingang, von wo aus sie eine schwarze Limousine auf direktem Wege in das MI6-Hauptquartier brachte. Als sie über die Brücke fuhren, erhaschte sie einen kurzen Blick auf die Themse und sie sah, welche Schönheit London bereithielt, wenn man nur die Zeit hatte, genau hinzusehen. Als sie aus dem Wagen stieg, hörte sie hinter sich die Sirenen eines Rettungswagens. Aber anstatt an ihr vorbei- und Richtung Krankenhaus zu fahren, hielt er nur wenige Meter von ihr entfernt. Die Rettungssanitäter schoben einen offensichtlich schwer verletzten Mann durch einen Nebeneingang in das Hauptquartier.
»Merkwürdig. Wieso nicht ins Krankenhaus?«, fragte sie sich, dachte dann aber nicht mehr weiter darüber nach und betrat durch eine altmodische Drehtüre das Gebäude. »Ah, da sind sie ja endlich. Kommen sie, kommen sie«, begrüßte Josh Stones Meghan so forsch, wie sie es von ihm gewohnt war und schob sie Richtung Aufzüge. Der persönliche Sekretär von Alex Older war das zweite Herz dieser Einrichtung, der über alle Abläufe Bescheid wusste, deren Koordination übernahm und stets das große Ganze im Blick haben musste. Der für sie immer etwas kränklich wirkende Mann, den sie in seinen späten 30ern schätzte, hatte das Amt vor einem knappen halben Jahr übernommen, nachdem sein Vorgänger bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz in den Alpen ums Leben gekommen war.
»Haben sie den Rettungswagen gesehen?«, fragte Stones, nachdem die Aufzugtüren zugeglitten waren. Ohne auf die Antwort zu warten, fuhr er fort: »Older ist sehr viel daran gelegen, dass dieser Mann überlebt. Meine rudimentären medizinischen Kenntnisse sagen mir, dass das eine echte Herausforderung für sie wird. Ihre Beethovens Neunte, wenn Sie so wollen.«
Als sie im dritten Stock des Gebäudes angekommen waren, führte man sie direkt auf die Krankenstation. »Der OP ist bereits vorbereitet. Wir warten auf sie«, sagte eine kurz angebundene Schwester und führte Meghan in den Bereich, in dem sie sich waschen und in die entsprechende OP-Kleidung schlüpfen musste.
»Danke für die Vorbereitung«, raunte sie die Schwester mit zynischem Unterton an und sagte, dass sie sofort mehr über den Patienten wissen will. Meghan staunte nicht schlecht, als sie den OP betrat. Eine so moderne Ausstattung mit den allerneuesten Geräten und Instrumenten hatte sie nicht erwartet. Mit Blick auf den Patienten war all dies aber nicht mehr als sehr teures Spielzeug. Wollten sie ihn wirklich retten, würden sie das beschriebene Wunder tatsächlich benötigen. Aus medizinischer Sicht hätte dieser Mann längst tot sein müssen. Dass er es nicht war, kitzelte in Meghan jedoch den Ehrgeiz hervor. Wenn er so zäh war, bis jetzt irgendwie am Leben geblieben zu sein, würde sie alles dafür geben, dass dies auch so bliebe. Sollte sie dies nicht schaffen, würde es für sie der schlimmsten Niederlage gleichkommen. Und sie hatte in ihrem Leben gelernt, dass sie solche Niederlagen niemals akzeptieren wird.
Das medizinische Personal des MI6 war gut geschult und als sie den OP in voller Montur betrat, versorgte das anwesende Personal sie mit den wichtigsten Informationen. Der Mann hatte insgesamt sechs Schussverletzungen, von denen die an seinem Kopf die schlimmste war. Die anderen Wunden verteilten sich auf seinen Unterbauch, den Brustbereich sowie Schultern und Oberarme. Er hatte innere Blutungen, Organe waren verletzt, und dass er überhaupt noch am Leben war, ließ nur einen Schluss zu. »Was ist mit der Kopfverletzung? Wieso ist er nicht tot?«, fragte Meghan und bekam umgehend eine Antwort. Ein junger Arzt, der die Versorgung des Patienten bis zu ihrem Eintreffen übernommen hatte, sagte: »Ich denke, die Kugel ist von seinem Schädelknochen abgeprallt. Ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber offenbar hatte der Kerl hier unverschämtes Glück.« Im nächsten Moment verfluchte er sich jedoch schon wieder, so eine leichtfertige Aussage getroffen zu haben. Der Herzfrequenzmonitor begann warnend zu piepen. »Kammerflimmern. Schnell den Defibrilator!«, rief Meghan und riss die Kontrolle im OP an sich.
Gute sechs Stunden später trat sie sichtlich angeschlagen und erschöpft aus dem OP. Sie hatte sich