„Warum nicht? Dem einen kommt es früher, dem anderen halt später.“
Robert möchte auf ihre Bemerkung nicht eingehen. Er zeigt nur mit dem rechten Zeigefinger auf die Hauptüberschrift. Doch die Dame hat die Augen schon wieder geschlossen und ist fast augenblicklich eingeschlafen, ein Zustand, den auch die erneuten Ellenbogenstöße ihrer Begleiterin nicht stören können.
Robert nimmt sich die GWENDOLINE und blättert zum Inhaltsverzeichnis. Auf Seite 13 will der USA-Korrespondent der Illustrierten darlegen, warum unsere Bundeskanzlerin nichts gegen die Abhörpraktiken des amerikanischen Geheimdienstes unternimmt. Ihm sollen geheime Gehaltslisten der NSA zugespielt worden sein, auf denen auch der Name der deutschen Regierungschefin verzeichnet ist.
„Aha, nicht Weltraumbehörde, sondern Geheimdienst“, denkt sich Schibulsky. „Kaum zu glauben“, entfährt es seinem Mund, aber neugierig blättert er schnell weiter und sucht den entsprechenden Artikel.
Plötzlich starrt ihn seine Enkelin an. Mit offenem Mund sieht er sie auf drei Bildern. Ungläubig hält er die Zeitschrift näher an seine Augen. Aber es besteht kein Zweifel. Das ist wirklich seine Enkelin Britta, die in München studiert und zu der er gerade fährt. Die zugehörige Überschrift lautet:
Die entführte Gräfin zu Hohenstein zeigt ihrer Lebensretterin ihre Dankbarkeit.
Tatsächlich, unter dem Artikel befinden sich auch drei Fotos der Gräfin. Sie zeigen sie einmal vor ihrer Villa Lindenhof in Lindau, einmal kurz nach ihrer Befreiung aus ihrer Entführung, noch am Grünten und zuletzt zusammen mit seiner Enkelin Britta vor der Fachbibliothek Mathematik der Ludwig-Maximilians-Universität München an der Theresienstraße.
Skeptisch überfliegt Robert den Fotobericht des Klatschblattes. Darin kommt zum Ausdruck, dass die am Anfang des Jahres entführte Gräfin zu Hohenstein aus Dankbarkeit ihrer Lebensretterin ein Hochschulstipendium und eine angemessene Studentenwohnung finanzieren wird. Auf einem Bild steht Britta in der Tat vor ihrer neuen Wohnung in Stadtteil Grünwald.
Robert schlägt sich reflexartig so laut mit der flachen Hand vor die Stirn, dass die alte Dame erschrocken zusammenzuckt und das Mädchen kurz von ihrem Alien-Fight hochschreckt. Er schüttelt erneut den Kopf, kann es nicht glauben:
„Wie leichtsinnig von Britta. Woher hat das Mädel das nur? Wie kann man so viele Informationen der Öffentlichkeit preisgeben?“
Kapitel 23 - Hotel Dolde 17.02., 13:15
Kurz nach seiner Mittagspause erhält PHM Peter Endras in der Polizeiinspektion Oberstdorf in der Bahnhofstraße 4 einen aufgeregten Anruf.
„Hallo, ist da die Polizei, hier spricht Michael Gruber.“
„Polizeihauptmeister Peter Endras, Polizei Oberstdorf, was pressiert denn so, Michi?“
„Bitte, Peter, kannst du rasch bei mir im Hotel vorbeikommen. Ich habe mit der heutigen Post einen Drohbrief bekommen.“
„Okay, Michi, ich bin gerade allein hier. Aber die Kollegen müssen jeden Augenblick von einem Einsatz wegen Ladendiebstahls im Netto zurückkommen. Ich bin dann bestimmt gleich in der Dolde.“
Während er den Telefonhörer wieder auf die Gabel des Diensttelefons legt, kommen ihm blitzschnell zwei Aspekte in den Sinn: die Ermordung des Sohnes und die Anschuldigung der Brandstiftung – hängt vielleicht beides miteinander zusammen? Vielleicht kommt jetzt etwas Licht in die Angelegenheit?
Nachdem PM Regina Ströbele und Polizeianwärter Eckhard Zwanziger zehn Minuten später wieder den Empfangsraum der Inspektion betreten haben, macht sich der Dorfsheriff auf den Weg zum Hotel Dolde, das kaum 100 m entfernt an der Hauptstraße liegt. Da Regina den Diebstahl in einem Sportfachgeschäft noch protokollieren muss, nimmt er den Anwärter mit.
Im Hotel wird er sofort von der Gastwirtsfrau Rosemarie in Michaels Büro geführt. Gruber sitzt hinter seinem uralten, aber deswegen sehr stilvollen Schreibtisch. Vor ihm liegen einige Rechnungen und ein Zettel mit zusammengeklebten Buchstaben. Wortlos reicht er dem Sheriff das Blatt.
„Hier, schau dir das an, Peter, das ist doch eine Sauerei.“
Der Dorfsheriff betrachtet ausführlich die Collage aus farbigen Einzelbuchstaben.
Peter Endras liest die Seite laut vor:
„Lass dir das Schicksal deines Sohnes eine Lehre sein. Verzichte auf die Konzession!“
Es handelt sich um ein Blatt aus einem Schulheft. Die Lineatur ist für Schüler der Klasse 2 typisch. Die Buchstaben sind ziemlich wahllos zusammengeschnippelt worden. Er wendet es und reicht es dann Eckhard Zwanziger, der seine kleine Kompaktkamera herausholt und das Beweisstück ablichtet.
„Das ist ja wie in einem schlechten Film“, mokiert sich der Assistent. „Ist das vielleicht ein Kinderscherz?“
„Nichtsdestotrotz müssen wir die Sache ernst nehmen“, mahnt Endras.
„Was glaubst du, warum ich dich sofort angerufen habe?“, empört sich Gruber.
„Und du hast keine Ahnung, wer dich auf diese niederträchtige Art einschüchtern will?“
Auch Zwanziger schaut den Wirt erwartungsfroh an. Gruber überlegt, legt seine Stirn in Falten und schüttelt langsam den Kopf.
„Natürlich möchten auch andere Wirte hier aus Oberstdorf die Restauration im neuen Museumsdorf übernehmen. Aber das jemand unserer Gilde deshalb nicht einmal vor Mord zurückschrecken würde, kann ich mir nicht vorstellen.“
Endras bestätigt Grubers Meinung durch kaum wahrnehmbares Nicken.
„Was ist mit deinem Personal. Hast du mit einem von ihnen in letzter Zeit Streit?“
„Nach dem Brand der „Schnatossi-Bar“ muss ich den Hotelbetrieb für mindestens ein Jahr schließen. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als einigen zu kündigen.“
„Und, Michi, mit wem gab es da besondere Probleme?“
Als der nur ahnungslos die Hände in die Höhe hebt, schaut Peter Endras seine Frau an, die bislang kommentarlos im Türrahmen stehen geblieben ist.
„Nichts da, Peter, auf unser Personal lasse ich nichts kommen. Alle sind seit vielen Jahren bei uns angestellt, und es hat noch nie irgendetwas Negatives gegeben.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Aber leider habe ich schon sehr oft erkennen müssen, dass man sich manchmal doch in den Menschen täuschen kann.“
Der Dorfsheriff wendet sich wieder dem Wirt zu.
„Du erlaubst, dass wir dieses Blatt mitnehmen? Ich werde es der Mordkommission in Kempten übermitteln. Die werden es kriminaltechnisch untersuchen lassen. Vielleicht finden wir ja doch Spuren oder andere Indizien, die auf den Verfasser schließen lassen.“
Michael Gruber erhebt sich schwermütig von seinem Bürosessel und reicht den Polizisten zum Abschied die Hand. Zwanziger verstaut den Drohbrief in seiner Aktentasche und tritt in den Flur des Hotels, das jetzt während der Restaurierung einen wirklich einsamen Eindruck hinterlässt.
Als die beiden Polizisten über den Hintereingang das Gebäude verlassen, kommen sie im Hof an den Mülltonnen vorbei. Endras verspürt wie immer in so einem Fall den Drang, einen Blick in die Abfalleimer zu werfen. In der großen Papiertonne liegt obenauf eine Zeitung. Auch ohne genau hinzusehen, fällt ihm ins Auge, dass dort einige Buchstaben ausgeschnitten worden sind. Bei der Zeitschrift handelt es sich um das neueste „Oberstdorf Magazin“ vom Februar 2014
Er dreht sich um. Niemand scheint ihn zu beobachten. Nur Zwanziger lächelt ihn an. Schnell greift Endras sich das Magazin, bei dem schon Buchstaben aus dem Titelblatt ausgeschnitten fehlen, reicht es dem Anwärter und flüstert:
„Einstecken, Eckhard. Erzählten Sie mir nicht einmal, dass Sie sehr gerne große Puzzles zusammensetzen. Ich glaube,