Dann sollte er doch gehen. Und wieder überkam mich der alte Gedanke: „Warum nicht er, warum musste sie sterben? Sie wäre nicht gegangen!“
Abschied
Ich suchte Flaro. Niemand wusste wo er war, und auch wo Ariana war, wusste niemand.
Von Eiramsor hatte ich mich bereits verabschiedet. Sie brachte mir noch Reiseproviant und einige Heilkräuter, Salben und andere nützliche Dinge. Ich verstaute alles in meinem Boot und war nun zur Abreise bereit. Ich hatte mich von allen, die mir wichtig waren, verabschiedet. Meine Mutter wollte mich nicht sehen, doch sie erlaubte zu meiner Erleichterung, dass ich mich von meinem kleinen Bruder Suiram verabschieden durfte. Er sah sehr verschüchtert und ängstlich aus, war ich doch wie ein Fremder für ihn.
„Ach, mein kleiner Bruder, gerne hätte ich viel mehr Zeit mit dir verbracht, aber...“ Ich stockte, nein, ich wollte keine bösen Worte über meine Mutter zu ihm sagen, da ich wusste, dass er dann wütend auf mich werden würde. „Kleiner Bruder Suiram, ich komme wieder und ich hoffe, dass wir dann die Zeit für uns finden werden, die wir bis jetzt noch nicht hatten. Ich werde wiederkommen, das verspreche ich dir.“ Ich wollte ihn in den Arm nehmen, doch er wehrte sich, riss sich los und lief weinend ins Zelt unserer Eltern.
Nun stand ich hier am Fluss, alleine. Angst und Traurigkeit überkamen mich, ich schaute noch einmal zum Lager zurück und sah jemanden humpelnd und winkend auf mich zukommen.
„Warte!“, schallte es leise zu mir herüber. „Warte!“
Es war Flaro, an seiner Seite die hübsche junge Frau, mit der ich ihn heute Morgen Hand in Hand gesehen hatte.
„Du willst doch nicht gehen, ohne dich von mir zu verabschieden, oder?“, sagte er wütend und ich wusste, er tat nur so.
„Ich habe dich überall gesucht und niemand wusste, wo du bist“, entgegnete ich ihm etwas entnervt.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich beschäftigt bin.“ Er schaute jetzt lächelnd seine Begleiterin an und küsste sie sanft auf die Lippen.
„Nein, nicht was du denkst“, fuhr er grinsend fort. „Darf ich dir erst einmal meine zukünftige Frau vorstellen: Lanana!“
Ich nickte ihr lächelnd zu. „Ein wunderschöner Name, wie der Name einer Blume.“
Verlegen schaute sie nach unten und sagte leise: „Danke, Suilenroc.“ Der Klang ihrer lieblichen Stimme war wunderschön.
„Sechs Tage muss ich noch meine Finger von ihr lassen, ich habe es ihrer Mutter versprochen, aber dann...“ Wieder lächelte er sie aus tiefsten Herzen an. Seine Augen glühten vor Liebe und er sagte zu ihr: „Lanana, bist du so lieb und lässt uns alleine? Du weißt, ich möchte mich noch ein wenig mit Suilenroc alleine unterhalten.“
„Natürlich, ich wünsche dir eine gute und sichere Reise, mögest du das finden, was du suchst!“, verabschiedete sie sich freundlich von mir, drehte sich um und ging federleicht zum Lager.
Flaro schaute ihr sehnsüchtig hinterher. Und auch ich schaute ihr nach. Sie war so schön, bewegte sich elegant wie ein Reh und diese bezaubernde Stimme.
„Wo hast du sie gefunden?“, fragte ich neugierig. „Ich habe sie noch nie im Lager gesehen?“
Flaro stieß mir sanft aber bestimmt seinen Ellenbogen in die Rippen. „Hey, lass die Finger von ihr, sie gehört mir.“
„Ja, ja, ist ja gut, ich gehe jetzt sowieso. Obwohl, wenn ich sie mir so anschaue, vielleicht sollte ich...“ Er schaute mich böse mit zusammen gekniffenen Augen an. „Nein, nein, keine Angst, sie gehört dir, doch warum habe ich sie noch nie gesehen?“
„Ihre Mutter hat sie immer gut bei den Frauen bewacht, aber du weißt ja, wie gerne die Frauen mich wegen meiner Geschichten bei sich haben. Sie ist Aliranas Tochter, daher hat sie auch diese wunderschöne Stimme. Und du müsstest sie erst einmal singen hören, ich sag‘s dir, noch besser als ihre Mutter. Und dann stell dir erst mal unsere Kinder vor, sie werden singende Geschichtenerzähler, ich hoffe, es werden sehr sehr viele Kinder. Ach Lanana, sie macht mich ganz verrückt, und ich muss noch sechs ganze Tage und Nächte warten...“
Er redete und redete und ich ließ ihn. Der Tag neigte sich langsam dem Abend entgegen. Ich wollte ihm die Zeit noch schenken, meinem treuen Freund Flaro. Ich wusste nicht, wann und ob ich ihn jemals wiedersehen würde.
Flaro erzählte und lachte, bis ihm seine gebrochenen Rippen schmerzten.
„Wie geht es deinen Rippen?“, fragte ich schnell in einer seiner wenigen Atempausen.
„Komisch, wenn Lanana neben mir ist, spüre ich nichts, mit dir an meiner Seite tut mir alles weh. Nur gut, dass sie meine Frau wird und nicht du.“ Er lachte herzlich auf, krümmte sich wieder vor Schmerzen und lachte dann noch lauter.
„Flaro“, sagte ich schließlich ernst, „ich werde jetzt gehen.“ „Ich weiß“, sagte er, „ich weiß. Ich hatte nur gehofft, dass du noch bis morgen bleibst. Wenn ich die ganze Zeit rede und rede, wird es dann einfach zu spät für deinen Aufbruch.
„Ich werde heute gehen, es gibt so wenig, was mich hier noch hält. Du bist jetzt in sehr guten Händen und wirst dich schnell bei Lanana trösten und glaube mir, ich freue mich sehr für dich.“ Nachdenklich machte ich eine kurze Pause. „Meine Mutter will mich nicht, mein Vater ist froh, dass ich gehe und Ariana... Ich habe ihr Schmerzen zugefügt...“
„Nein, hast du nicht, ich habe vorhin mit ihr gesprochen. Ich wollte sie mitnehmen, aber sie schämt sich so sehr.“
„Wo ist sie?“, fragte ich schnell dazwischen. „Wo, sag es!“ In mir keimte die Hoffnung, die Dinge zwischen uns doch noch vor meiner Abreise klären zu können.
„Sie will dich nicht sehen, sie kann dir nicht in die Augen schauen. Lass sie. Sie liebt dich, sie wollte dich haben... Sie hat mir alles erzählt von letzter Nacht“, sagte er ruhig und doch etwas stockend.
Wir schwiegen. Langsam versank die Sonne hinter dem Berg.
„Suilenroc, ich habe noch eine Frage an dich.“ Verwundert schaute ich ihn an.
„Ja, was?“
„Gestern Nacht beim Ritual, was ist dort passiert?“, wollte er wissen.
Ich erzählte ihm alles, absolut jedes Detail, auch was nach dem Ritual zwischen Ariana und mir passierte und ich berichtete von dem Boot. Ich schilderte ihm einfach alles, was seit gestern Morgen geschah. Es tat sehr gut, ihm all diese Dinge zu erzählen und mich einem guten Freund, ja dem besten, anzuvertrauen. So viel ist in so kurzer Zeit geschehen, dass ich es selbst fast nicht begreifen konnte. Und so hörte mir nicht nur Flaro zu, letztendlich hörte ich mir auch selbst zu.
Inzwischen war die Sonne untergegangen und ich wollte beinahe bleiben, wie Flaro es bezweckt hatte.
„Es ist Zeit, dass du gehst. Jetzt kommt die Nacht und wieder scheint ein voller Mond auf dich, es ist deine Zeit. Der Mond wird dir deinen Weg zeigen. Ich danke dir, dass du mir das alles erzählt hast. Ich habe jetzt wieder viele Geschichten zu erzählen. Über Suilenroc, den Krieger des Lichts.“
Feierlich stand er jetzt vor mir.
„Hier, ich habe noch zwei Geschenke für dich. Dieses hier ist von Ariana.“ Er überreichte mir ein kleines Bündel. „Sie bat mich dir zu sagen, dass du es erst in drei Tagen öffnen sollst. Ich nickte beschämt und legte das Bündel in das Boot.
„Und das hier habe ich heute noch für dich gemacht, deswegen war ich so beschäftigt.“ Er überreichte mir seine Gehstütze und ich erkannte erst jetzt, dass es sich um ein Ruder handelte. Er spöttelte und zwinkerte mir zu: „Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass dein neues Boot gar kein Ruder hat?“
Verblüfft