„Na ja, Richtungen gibt es schon, Macht und Geld, Ruhm und Einfluß, Jugend und Schönheit, nur daß diese eben prinzipiell amoralisch sind oder zumindest nicht gemeinnützig.“
„Eben. Und solange alle schön im gleichen Trott mitlaufen, bleibt alles beim Alten, die Reichen werden reicher, die Armen ärmer, die Weisen weiser, und die Frustrierten frustrierter. Brauchst nur mal an die Jugendkrawalle der jüngsten Zeit zu denken, sogar mitten in Europa, und uns gehts ja noch vergleichsweise gut: Die Menschen haben Angst, und keiner kommt sie beruhigen, denn man hat ihnen eingeredet, Gott sei ein albernes Ammenmärchen, und ohne Seine Führung lassen sie nun alles mit sich machen. Wirklich religiöse Menschen sind weder frustriert noch willenlos und daher in der modernen Gesellschaft weniger gern gesehen. Es sei denn, du bist halbreligiös, so ein bißchen eben, dann kann man dich wieder genauso schön manipulieren wie die Atheisten, und vielleicht sogar noch besser.“
„Hmmm, da fällt mir wieder der Song von vorhin ein, wie es scheint nen echter Knüller:
When they've tortured and scared you for twenty odd years,
Then they expect you to pick a career,
When you can't really function you're so full of fear.
Paßt gut auf unser Thema, wie hatter das bloß geahnt damals vor vierzig Jahren?“
„Universelles Gedankengut veraltet nicht - wissenschaftliche Erkenntnisse schon.“
„Der erste Teil deiner These stimmt, sonst gäbs ja keine Klassiker, der zweite nur bedingt: auch die Wissenschaft sucht ja dauerhafte Ergebnisse und hat schon einige davon zutage gefördert.“
„Unter Vorberhalt. Glaube nur dem Theorem, das du selbst gefälscht hast.“
„Dein skeptischer Aberglaube beiseite, warum sollte das moderne Raum-Zeit-Weltbild denn nicht stimmen? Gerade die heutige Wissenschaft will doch die Wahrheit erfahren, nur losgelöst von göttlichen Axiomen.“
„Wobei sie diese mit aller Gewalt ausschließen wollen, anstatt wenigstens unvoreingenommen zu sein. Aber der Zwang zur Säkularisierung ist größer als die Vernunft. Sieh, in den Naturwissenschaften geht es immer nur ums Wie, also eine rein mechanische Sichtweise, in den Geisteswissenschaften geht es wenigstens auch noch um das Warum, also eine wertende Sicht, die hinter die untersuchten Phänomena zu blicken versucht. Wenn die Naturwissenschaften nicht damit aufgehört hätten, nach dem Warum zu fragen, wäre viel mehr Wert gelegt worden auf die im Hintergrund wirkenden Zusammenhänge, und holistische Erklärungsmodelle, wie sie erst jetzt langsam modern werden, wären längst gang und gäbe, somit hätten sie sicher viel besser als bisher geschehen dazu beigetragen, dem Menschen zu erklären, wie sich sein Dasein mit Sinn und Verstand füllen läßt.“
„Interessante These: Warum gibt es Gravität? Warum gibt es Elektromagnetismus? Warum gibt es die Wechselwirkung?“
„Die Herren Gelehrten werden sagen: was solls, Naturgesetze sind Zufall, wir studieren nur ihre Effekte, die religiösen Brüder hingegen werden schon wissen, warum.“
„Hört sich interessant und provokant an, deine These, können wir dann das nächste Mal gern weiter verfolgen, ich muß jetzt leider raus, werd ma gleich striktemang nach Hause tigern. Warn langer Tag heut, hat Spaß gemacht, sehn uns dann morgen in alter Frische im nämlichen Theater!“
„Ne ne, morgen ist Sonntag.“
„Eh klar, stimmt, dann in der Ausstellung.“
„Ja gut, anyway all the world’s a stage. Tschö, gute Nacht!“
„Servus, paß auf dich auf!“
„Idem!“
Hmm, schon wieder ziemlich dunkel draußen, da verläßt einen immer das Zeitgefühl. Könnt jetzt gar nicht sagen, wie spät es ist, sieben, zehn, Mitternacht? Vorhin ging die Sonne unter, also müßte es jetzt ... wirklich, wir moderne Menschen haben jeglichen Bezug zu der uns immer noch umgebenden Natur verloren, hätte damals zu den Pfadfindern gehen sollen, die lesen die Uhrzeit sogar vom Kompaß ab. Nun schnell ins traute Heim. Echt müde jetzt. Diesmal hats gewirkt - Herumlaufen macht schläfrig, mit oder ohne Denksport.
Jetzt noch das abendliche Ritual. Tür auf, Tür zu, Licht an, Licht aus, Umziehen, Zähneputzen, Schluck Wasser, Blick in den Kühlschrank. Muß dringend einkaufen. Bin echt fertig, so früh raus ist doch bestimmt ungesund, klar, Morgenstund hat Gold im Mund, aber ab und an muß man auch mal durchdösen können, werd mich jetzt ins Bett legen und den lieben Gott nen guten Mann sein lassen. Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich nun endlich Ruhe sehen. Wecker stellen fällt heute aus. Kuschel kuschel, Hauptsache warm jetzt ... war ja echt ne Überdosis Tiefschurf mit Bea - muß doch irgendetwas dran sein, wenn Millionen Menschen so auf Religion abfahren - oder bleibts ne kollektive Wahnvorstellung? Gähn ... wer weiß ob wirs jemals wissen werden ... Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen ... vielleicht gibt’s ja doch das Licht am anderen Ende des Tunnels, werden wir dann sehen, wenns so weit ist, oder auch nicht, oder es gibt noch ganz was anderes, Überraschung! Oder wir werden einfach nur wiedergeboren, noch mal weils so schön war, same procedure as every year. Na, wie war das denn noch: erstens kommt es anders, zweitens als man denkt, drittens kommt es oft, und viertens unverhofft. Genaueres dann, wenn das Spiel schlußendlich abgepfiffen worden ist ...
Der zweite Traum
Ein Fußballstadion, brechend voll, müssen -zigtausende sein, vielleicht das Nordderby, ja, Werder gegen HSV, trockene Luft, was mach ich denn hier mitten auf dem Spielfeld, ich kann doch gar nicht Fußball spielen, muß ein Irrtum sein, hoffentlich merkt das keiner, muß mich gleich vom Trainer auswechseln lassen, wohin gehen, bloß nicht im Weg stehen? Spannungsgeladene Atmosphäre, Sprachgewirr, verstehe kein Wort, neben mir die Mannschaftskameraden, gegenüber die anderen, au Backe, gleich gehts wohl los, da ist der Trainer, schnell hin, muß mir die Blamage ersparen vor aller Augen:
„He, ich glaub ich bin überhaupt nicht in Form, laß mich besser nicht spielen, das wird bei mir heut nix.“
„Was ist mit deiner preußischen Pflichterfüllung? Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Spiele dein Spiel und achte nicht auf das Ergebnis, das liegt sowieso nicht in deiner Hand.“
„Jaja, aber manchmal ist Zuschauen eben besser als Mitmachen.“
„Nicht für uns. Spielen ist aktiv, Zuschauen passiv, und wir wollen unsere Chancen nutzen.“
„Dann möchte ich meinen Kameraden auf der Reservebank nicht deren Chancen stehlen, wenn sie statt meiner ...“
„Edel gedacht, hilfreich und gut, doch selbst ist der Mann.“
„Und wenn wir nun wegen mir verlieren?“
„Höre nicht auf dich! Kultiviere deine Tugenden, das ist viel wirkungsvoller als über deine schwachen Seiten zu resümieren. Und nun geh einfach mit mit der Mannschaft, dazu seid Ihr ja ein Team, denke nicht an deinen persönlichen Schaden oder Nutzen, du bist hier nicht wichtig. Nicht denken, handeln, dann wird dich das Resultat auch nicht belasten: dabei sein ist alles.“
„OK, hast mich fast überzeugt, vielleicht versuch ichs tatsächlich mal, kann ja auch ganz lustig werden.“
„Lustig? Ist Karneval oder was? Anstrengen mußt du dich schon ein bißchen dabei, per aspera ad astram, mein Lieber! Immer schön locker bleiben, ja, aber beständig sein. Es braucht Disziplin, Entschlossenheit, Hingabe, der Rest ergibt sich dann von selbst.“
„Das hört sich aber schon sehr schwierig an! Vielleicht bleib ich doch lieber zu Hause ...?“
„Es gibt kein Zurück. Leben ist