»Gebt es mir«, bellte der Ankläger mit ausgestreckter Hand und fordernder Stimme.
»Es gehört mir«, protestierte Kleist und hielt das Buch hinter seinen Rücken. »Es ist doch nicht verboten, des Nachts die frische Luft zu genießen und die Natur …«
»Stellt meine Geduld nicht auf die Probe«, bellte der Päter. »Händigt mir das Buch aus - oder sollen meine Männer nachhelfen?«
Der Hauptmann trat entschlossen einen Schritt vor. Nach kurzem Zögern streckte Kleist widerwillig das Buch vor, das ihm sogleich von dem diensteifrigen Soldaten aus den Händen gerissen wurde. Dieser zog es jedoch nicht an sich, sondern hielt es an ausgestreckten Armen weit von seinem Körper, als ob er befürchtete, dass die Zauberei, die in diesen Schriften verborgen war, von ihm Besitz ergreifen könnte. Der Ankläger nahm es an sich und ließ die Seiten flüchtig durch seine Finger huschen.
»Ihr wisst, dass diese Schriften verboten sind!«, mahnte er.
»Ihr versteht nicht …«, entgegnete Kleist kleinlaut.
»Was soll ich nicht verstehen? Die Blasphemie2, die mit diesem Buche verbreitet wird, oder …«
»Nein, keine Blasphemie«, fuhr Kleist ihm hastig ins Wort. »Es sind wissenschaftliche Abhandlungen gelehrter Leute, die eindeutig beweisen, dass ein Uranolith niederkommen und das Ende der Welt besiegeln wird, denn die Erde ist wahrhaft nicht der Mittelpunkt des Seins. Dieses Buch ist einzigartig …«
»Pah, wisst Ihr, wie viele solcher Schriften ich schon in den Händen hielt, die den Untergang der Welt prophezeit haben?«
Kleist zuckte mit den Schultern und riet: »Vielleicht … vier?«
»Äh, nein, drei«, antwortete der Ankläger etwas verunsichert, da seine Frage rein rhetorisch gewesen war und nicht nach einer Antwort verlangte, »aber das tut hier nichts zur Sache.« Dann wandte er sich seinem Gefolge zu und befahl: »Nehmt diesen Mann in Gewahrsam. Er soll seine Lügen dem Tribunal vorbringen.«
Kapitel I
Eine Begegnung
Die Wälder zu jener Zeit waren ursprünglich, unermesslich groß und ebenso dunkel. Es soll Gehölze gegeben haben, die in vier, fünf Tagen, mit Pferd und Wagen zu passieren waren, was jedoch von Art und Beschaffenheit der Wege abhing. Bei anderen sollen die Reisenden gar Wochen und Monate unterwegs gewesen sein, sie zu durchqueren und nicht ein einziges Gasthaus lag auf ihrem Wege. Jene Reisenden gingen dieses Wagnis allerdings nur ein, da sie zu umgehen noch wesentlich länger gedauert hätte und sie auf der anderen Seite gewiss wichtige Geschäfte zu erledigen hatten.
Es existierten jedoch auch Wälder, die weder von Wegen noch von Pfaden durchzogen wurden. Kein Weg führte hinein und keiner hinaus. Des Nachts waren sie finster und unergründlich, und wann immer etwas Dunkles geschah, wurde es den unheilvollen Mächten des Waldes zugeschrieben. Sie seien verwunschen oder gar verhext, sagte man, und es sollten sich dort zwielichtige Wesen verborgen halten, die nichts Gutes im Schilde führten.
Die gefürchteten Räuberbanden jedoch lauerten stets an Wegen, denn dort stand die Chance am besten, jemanden überfallen, ausrauben und meucheln zu können. Der Reisende hatte also die Wahl: Zwielichtige Wesen oder skrupellose Räuber.
Bei Tage schien der Wald, von dem hier die Rede ist, sich kaum von anderen zu unterscheiden. Auch hier wuchsen, wucherten und blühten die Bäume, Sträucher, Farne und Blumen seit nunmehr tausend Jahren oder länger. Einige hatten bereits große Dürren und vernichtende Stürme überstanden. Andere wiederum zogen sich zurück, sobald der eisige Wind den Winter ankündigte, um mit den ersten Sonnenstrahlen neugierig ihre frischen Triebe der Sonne entgegenzustrecken. So eroberte sich jedes Pflänzchen, jedes Gewächs, jeder Baum seinen festen Platz in dem mystischen, alten Wald.
Doch weder die mächtigen Eichen noch die seltsam anmutenden Blumen gaben dem Wald seine zauberhafte Bedeutung. Nein, es waren die Geschichten und Erzählungen, die Lügen, aber auch die Wahrheiten, die den Schleier einer Zauberwelt über diesen Wald legte. Das grüne Meer erstreckte sich südlich des großen Moores bis zu den Ausläufern des unendlichen Ozeans und war niemals von Menschenfüßen durchschritten worden.
Es soll dort zwar Wege und Pfade gegeben haben, doch sagte man, dass diese stets ins Verderben führen würden. Man munkelte, dass noch nicht eine Seele unbeschadet den Weg durch den Schattenwald gefunden hätte, denn so wurde er genannt.
Doch wozu sollten die guten Leute diese Gefahren auf sich nehmen, war doch allseits bekannt, dass jenseits des Waldes fremdartige Rassen siedelten. Das Volk, das sich dort niedergelassen hatte, war eben anders und mit solchen wollte man nichts zu tun haben. Sie sahen anders aus, sie sprachen eine fremde, unverständliche Sprache und hatten so gar nichts mit ihnen gemein. Außerdem, so behauptete man, seien diese Fremden feindselig und würden verschiedenste Götter anbeten, obwohl kein Zweifel daran bestand, dass es nur einen Gott gab. Aus welchem Grunde sollte man diesen verfluchten Wald also durchqueren wollen?
Und die Leute taten recht in ihrem Misstrauen. Nicht alles in diesem Wald zeigte sich feindselig oder gar gefährlich, doch das eine oder andere Geschöpf hatte keine allzu hohe Meinung von den Zweibeinern, die laut polternd daher kamen und weder dem Wald noch ihren Bewohnern Respekt zollten, und so manches Geschöpf witterte eine fette Mahlzeit auf Pferd und Wagen.
Die Geschichte will es, dass im Zentrum dieses Waldes, verborgen vor neugierigen Blicken, eine ausgedehnte Lichtung lag, die von farbenfrohen Blumen nur so übersät war. Niemand wusste, wer sie geschlagen hat oder gar zu welchem Zwecke. Normalerweise wurden Waldlichtungen von Menschen angelegt. Sie fällten die Bäume und rodeten das Unterholz, um Siedlungen, Dörfer oder Gebetsstätten zu errichten und verlassene Waldlichtungen wurden nach wenigen Sommern von der Natur zurückerobert und bald schon wieder von Wald vereinnahmt. Auf dieser allerdings hatte kein Mensch sein Beil geschwungen. Hier wirkten andere Kräfte.
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Und im milden Licht jener Lichtung spürte ein Bursche seinen Herzschlag; jedoch erst schwach. Mit halblangen Hosen und zerschundenen Knien stand er da, lächelte sanft und hielt seine Augen geschlossen. Es hatte den Anschein, als wäre er glücklich und zufrieden mit sich und der Welt. Durch seinen langen, braunen Schopf strich ein leichter aber kühler Wind, sodass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er blähte seine Nasenlöcher und atmete tief ein - einmal, zweimal. In der Luft lag ein würziger Duft von Kräutern und Bärlauch. Seine Augen waren geschlossen, sein Herzschlag wurde zu einem schweren Pochen in seiner Brust, das den Hals herauf bis zu seiner Schläfe pulsierte. Ein Moment verging, dann öffnete er langsam die Lider und blinzelte über die Lichtung, die vom Sonnenuntergang in goldenes Licht getaucht zu seinen Füßen lag. Das Pochen wurde schwächer.
Unzählige Pollen tanzten durch die Luft und so schien es ihm, als hätte er einen Schleier vor den Augen. Er blinzelte, rieb sich die Augen und mit der Zeit wurden die Bilder deutlicher. Die wilden Blumen auf der Waldwiese waren größer als er sie kannte, und auch ihre Farben waren anders - intensiver. Um die großen, weit geöffneten Blüten schwirrten Bienen, Libellen und allerlei Getier, so groß und in allen Regenbogenfarben schillernd, wie er sie noch nie gesehen hatte.
Manche flogen so nah an seinem Ohr vorbei, dass er das Surren der Flügelschläge deutlich hören konnte. Andere steuerten geradewegs in Richtung seines Gesichtes, doch dann drehten sie kurz vor der Nasenspitze ab, als ob sie erkannt hätten, dass sie dort nicht landen durften und flogen weiter, auf den nächsten Kelch zu. Obwohl die Luft von Insekten erfüllt war, schienen diese niemals aneinander zu stoßen oder sich zu berühren und er fragte sich, wie ihnen das wohl gelang.
Der Junge stand mit hängenden Schultern da und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Er strich über seinen Kopf und spürte feuchte Erde in seinen Haaren. Gesicht, Hals und Kleidung waren über und über mit Erde bedeckt, als sei er eben erst einem dunklen, feuchtem Grab entstiegen. Hände und Fingernägel waren unter der