„Keine gewöhnliche Mauer“, begann Allruk erneut. „Sie hat eine besondere Form. An der Basis ist sie nur zehn Längen stark, doch oben, an ihrer Krone, misst sie deren fünfzehn. Kennt Ihr den Grund hierfür, Hoher Herr?“
„Ihr werden ihn mir sicher gleich nennen“, mutmaßte Nedeam und versuchte, seiner Stimme einen freundlichen Klang zu geben.
„Ah, die Mauer ist nach vorne geneigt“, sagte der Zwerg und rieb sich instinktiv die Hände. Dabei hätte er fast den Halt verloren und umklammerte rasch das Sattelhorn. „Sie gleicht einer überhängenden Klippe, Ihr versteht? So ist es unmöglich, sie von außen zu ersteigen, und wir Zwerge haben eine Vorrichtung ersonnen, mit der man das Anlegen von Sturmleitern verhindern kann.“
„In der Mauerkorne befinden sich Schienen“, warf Llaranya ein. „Mit ihnen kann man stählerne Streben nach außen drücken, sodass eine Sturmleiter nicht an der Mauerkorne selbst angelegt werden kann.“
„Äh, ja“, brummte Allruk überrascht. „Woher wisst Ihr das?“
„Weil diese Vorrichtung von dem elfischen Gelehrten Mionas ersonnen wurde.“ Die Elfin strahlte den Zwerg mit ihren großen Augen an. „Bevor die Häuser der Elfen zu den Neuen Ufern aufbrachen, hat er mir einiges von seinem Wissen übermittelt. Ich gab es für den Bau der Feste weiter.“
„So, ah, war mir glatt entfallen.“ Allruk zupfte verlegen an seinen Bartzöpfen und wankte bedenklich im Sattel. „Dennoch eine gute Idee, und wir Zwerge haben sie meisterlich umgesetzt.“
„Fraglos.“ Nedeam konnte seinen Ärger kaum noch unterdrücken.
Vor ihnen war Bewegung zu erkennen, als die Besatzung der Nordfeste auf dem freien Platz zwischen Mauer und Gebäuden antrat. Die beiden dortigen Beritte formierten sich, wobei die Schwertmänner neben ihren Pferden standen. Eine höfliche Geste gegenüber dem anderen Teil der Garnison. Zweihundert brave Axtschläger des Zwergenvolkes traten zu Ehren der Neuankömmlinge in voller Kriegsrüstung an. Die Sonne warf blitzende Reflexe über die blanken fünfeckigen Schilde und die gedrungenen Helme der Zwerge. Die Bolzenschleudern steckten in den Waffengurten, und die Kämpfer hatten ihre Äxte aus den Futteralen gezogen und hielten sie im Ehrensalut vor der Brust gekreuzt.
Ein einzelner Zwerg stand vor den angetretenen Formationen und sah Nedeam und den anderen entgegen. Sandfallom, Erster Axtschläger der gelben Kristallstadt Nal´t´hanas und derzeitiger Kommandant der Nordfeste.
„Willkommen, Hoher Herr“, grüßte er, als Nedeam sein Pferd vor ihm zügelte. Sein Blick glitt zu Llaranya und den Männern der Beritte. „Seid auch ihr willkommen, Hohe Frau und Pferdelords der Hochmark.“ Er nickte Allruk zu. „Auch dir mein Willkommen, vortrefflicher Baumeister der Nordfeste.“
Nedeam zuckte kurz zusammen. Hatten Sandfallom und Allruk sich abgesprochen, die unbestreitbaren Verdienste des Zwergenvolkes derart zu betonen? Er ließ sich aus dem Sattel gleiten. „Seid bedankt für Euer Willkommen, Hoher Kommandant Sandfallom. Ich überbringe die Grüße unserer Herrin, der Hohen Dame Larwyn und die Grüße der Hochmark.“
Sandfallom nickte würdevoll. „Wir hörten vom Leid der Hohen Dame. Wir alle wünschen, dass es ihr bald besser gehen möge.“ Er lächelte. „Lasst Eure Männer absitzen und erfrischt euch alle von dem langen Ritt. Wird Euer Scharführer Arkarim nun die Beritte der Festung führen?“
„So ist es gedacht.“
Der Zwerg nickte. „Wir haben von seinen Taten in Jalanne und beim Feldzug gegen Cantarim gehört. Fraglos ein ausgezeichneter Pferdelord und eine gute Wahl.“
Aus den Augenwinkeln sah Nedeam den Scharführer, der bislang die Pferdelords der Nordfeste befehligt hatte und nun mit seinen Beritten in die Hochmark zurückkehren würde. Pendrats Gesicht wirkte seltsam unbewegt und verriet nicht die erwartete Freude über die Ankunft der Ablösung. Nedeam gab Arkarim einen Wink. „Mein Scharführer Arkarim wird mit Scharführer Pendrat besprechen, was es beim Bestreifen der Öde zu beachten gibt, Hoher Kommandant Sandfallom. Ihr werdet euch noch näher kennenlernen, doch ich denke, zunächst sollten wir uns unter vier Augen über die Lage in der Öde unterhalten.“
„Unter sechs Augen“, warf Llaranya ein.
Sandfallom runzelte die Stirn und nickte zögernd. „Wie ich sagte, ihr seid uns willkommen, Hoher Herr und Hohe Frau.“
Es gab sicher keine Geheimnisse auszutauschen, dennoch war es üblich, dass sich zwei Befehlshaber zunächst nur untereinander besprachen, bevor sie die unterstellten Scharführer und Männer hinzuzogen. Die Anwesenheit eines weiblichen Wesens, wie es Llaranya unzweifelhaft war, entsprach nicht den Gebräuchen, doch Sandfallom wollte nicht unhöflich erscheinen.
„Lasst uns in meinen Dienstraum gehen“, meinte er. „Derweil können die anderen Männer sich entspannen.“ Er gab Pendrat ein Zeichen, der daraufhin eine Reihe von Kommandos gab.
Die strengen Formationen lösten sich auf, und sofort bildete sich ein wildes Durcheinander von Zwergen und Menschen, die sich freudig begrüßten und ihre Neuigkeiten austauschten. Sandfallom führte Nedeam und Llaranya zu einem zweistöckigen Bau, und Allruk schloss sich ihnen ungefragt und hastig an.
Das Gebäude stellte eine ungewohnte Mischung aus der Bauweise der Menschen und jener der Zwerge dar. Wie viele Häuser des Pferdevolkes hatte es zwei Stockwerke. Ein kleiner Vorbau schützte den Eingangsbereich bei schlechter Witterung. Sein Dach war in Höhe des ersten Stocks angesetzt und ragte leicht geschwungen nach vorne. In den Marken der Pferdelords wurde ein solches Vordach von schlanken Säulen aus Stein oder Holz gestützt, hier hatten die Zwerge, wie es kaum anders zu erwarten gewesen war, ihre fünfeckige Grundform eingebracht. Das Pferdevolk bevorzugte noch immer Holz als reichlich vorhandenem Rohstoff. Lediglich in der gebirgigen Hochmark war es rar, und dort nutzte man, wie auch an der Nordfeste, den vorhandenen Stein des Gebirges. Die Steinquader waren sorgfältig ineinandergefügt, und die Steinschläger der Zwerge hatten zahlreiches Zierwerk angebracht. Die Fenster im Erdgeschoss waren niedrig und schmal und ähnelten Schießscharten, die im oberen Stock konnten mit metallenen Blenden verschlossen werden. Die Kommandantur machte den Eindruck einer Festung innerhalb der Festung. Neben der mit massiven Beschlägen versehenen Eingangstür hing ein überdimensionales fünfeckiges Zwergenschild an der Wand.
Zwei Wachen, ein Axtschläger und ein Schwertmann, gingen in den Ehrensalut.
Sandfallom bemerkte Nedeams Blick. „Wir Zwerge führen keine Banner oder Wimpel, wie es bei den Pferdelords üblich ist. In unseren heimatlichen Bergstollen wäre das auch eher unpraktisch, Erster Schwertmann. So hängt hier ein Schild, um anzuzeigen, wer gerade den Befehl über die Nordfeste führt.“ Er lächelte. „Trägt einer der Scharführer das Kommando, so hängt hier ein Rundschild des Pferdevolkes. Doch nun tretet ein.“
Nach dem trutzig und kalt wirkenden Äußeren der Festungsbauten war es im Inneren der Kommandantur überraschend gemütlich. Obwohl sie ein Zweckbau war, hatten die Männer, welche hier ihren Dienst versahen, alles getan, um ein Stück Heimat zu erschaffen. Man sah gewebte Stoffe aus der Hochmark an den Wänden und auf dem Boden, schimmernde Kristallsäulen, die zur Zierde im Raum standen, und eine Reihe von Skulpturen, die von den Künstlern beider Völker erschaffen worden waren. Kleine Brennsteinbecken standen auf fünfbeinigen Gestellen und erhellten die Räume dort, wo kein Tageslicht einfiel.
Sandfallom führte die Gruppe ins obere Stockwerk hinauf, wo sich der Amtsraum und das Privatgemach des jeweiligen Kommandanten befanden. An einer Wand hing eine detaillierte Karte der bekannten Regionen. Ein schmiedeeiserner Halter verriet, wo der menschliche Befehlshaber seinen Wimpel aufstellen konnte, und an der anderen Wand stand ein Regal, in dem sich eine Reihe von Büchern und Schriftrollen befanden.
Der Raum wurde von dem massiven Schreibtisch dominiert, dessen hölzerne Platte mit Einlegearbeiten verziert war und der auf fünf steinernen Stützen ruhte. Schreibutensilien und Schriftrollen lagen