Fingerzeige - Intentions. Oscar Wilde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oscar Wilde
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783753133249
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der Rückkehr zum Leben und zur Natur? Das ist das Universal-Heilmittel, das uns immer wieder empfohlen wird.

      Vivian. Ich will einmal vorlesen, was ich darüber sage. Die Stelle kommt zwar etwas später, aber ich kann sie dir schon jetzt geben: –

      »Es heißt heute allgemein: ›Laßt uns zum Leben und zur Natur zurückkehren; sie werden uns die Kunst wieder neu erschaffen und dem Blute ihrer Adern neues Leben geben; sie werden ihren Fuß beschwingen und ihrer Hand Macht verleihen. – ‹ Aber ach! wir sind auf verkehrtem Wege mit unsern gutgemeinten und ehrlichen Bestrebungen. Die Natur ist immer hinter der Zeit zurück. Und das Leben – es ist das Zerstörungsmittel der Kunst, der schlimme Feind, der ihr Gebäude verwüstet.«

      Cyril. Was heißt das, die Natur ist immer hinter der Zeit zurück?

      Vivian. Nun; das ist vielleicht etwas dunkel. Ich verstehe darunter folgendes: Wenn wir in der Natur nur den gemeinen, natürlichen, kindlichen Instinkt sehen, im Gegensatz zu selbstbewußter Kultur, so ist alles, was unter diesem Einflusse geschaffen wird, altmodisch und veraltet. Ein wenig Natur macht die ganze Welt verwandt, aber ein wenig zu viel Natur muß jedes Kunstwerk verderben. Wenn wir andererseits die Natur als Summe aller Erscheinungen der Außenwelt auffassen, so entdecken wir in ihr nur das, was wir in sie hineinlegen. Sie suggeriert nichts Eigenes. Wordsworth ging an die Seen, aber nie lernte er, sie besingen. Er fand im Gestein nur die Predigten, die er selbst dort verborgen hatte. Moralpredigend zog er im Lande umher, aber nur dann schuf er wahrhaft Wertvolles, wenn er zurückkehrte nicht zur Natur, sondern zur Poesie. Die Poesie schenkte ihm »Laodamia«, und die herrlichen Sonette, und die »Great Ode« in ihrer ganzen Schönheit. Die Natur schenkte ihm »Martha Ray« und »Peter Bell« und die Ansprache an Mr. Wilkingsons Spaten.

      Cyril. Ich glaube, es ließe sich darüber streiten. Ich bin geneigt, an die inspirierende Wirkung eines Frühlingswaldes zu glauben, obgleich, wie sich von selbst versteht, der künstlerische Wert einer solchen Eingebung einzig und allein abhängig ist von der Beschaffenheit der empfangenden Seele, so daß die Rückkehr zur Natur das Heranwachsen zu einer großen Persönlichkeit bedeutete. Damit würdest du wohl übereinstimmen. Indes, fahre in deinem Artikel fort.

      Vivian. (vorlesend). »Die Kunst beginnt mit übersinnlicher Dekoration, mit rein erdichtender und erfindungsfröhlicher Arbeit, sich nur mit dem befassend, was unwahr und unwirklich ist. Das ist die erste Phase. Sodann verliebt sich das Leben in dieses neue Zauberwesen und bittet um Einlaß in den verzückten Kreis. Die Kunst verwendet das Leben als einen Teil ihres rohen Materials, schafft es um und gibt ihm neue Gestalt, erfindet, erdichtet, träumt und errichtet zwischen sich und der Wirklichkeit die unverletzliche Schranke des schönen Stils, der dekorativen und idealen Behandlungsweise. Die dritte Phase ist die, in der das Leben die Oberhand gewinnt und die Kunst in die Wildnis hinaustreibt. Dies ist die eigentliche Decadence, und sie ist es, unter der wir heute leiden. Nehmen wir zum Beispiel das englische Drama. Zunächst, in den Händen der Mönche, war die dramatische Kunst übersinnlich, dekorativ, mythologisch. Dann nahm sie das Leben in ihren Dienst, und gewisse äußere Formen des Lebens benutzend, schuf sie eine völlig neue Art von Wesen, deren Leiden furchtbarer waren, als je die Leiden eines Menschen, deren Freuden größer waren, als alles Glück der Liebenden, die die Leidenschaft der Titanen besaßen und die Ruhe der Götter, denen große und grandiose Sünden zu eigen waren und große und grandiose Tugenden. Ihnen wurde eine Sprache verliehen, verschieden von der des Alltags, eine Sprache, reich an klingender Melodie und zierlichen Rhythmen. Ernster Tonfall gab ihr Pracht und bunte Reime Lieblichkeit. Herrliche Worte schmückten sie wie mit Edelsteinen, erhabenes Pathos gab ihr den Reichtum. Die Kunst kleidete ihre Kinder in wunderliche Tracht und gab ihnen Masken, und auf ihr Geheiß erhob sich die antike Welt aus marmornem Grabe. Ein neuer Caesar stolzierte durch die Straßen des erstandenen Rom, und mit purpurnem Segel und flötenbezaubertem Ruder glitt der Nachen einer neuen Cleopatra zu Antiochus. Alte Mythen und Legenden, alter Zauber gewannen Gestalt und Wirklichkeit. Das Buch der Geschichte wurde umgeschrieben, und es gab fast keinen Dramendichter, der nicht anerkannte, daß das Ziel der Kunst nicht einfache Wahrheit, sondern mannigfache Schönheit sei. Und hierin hatten sie vollkommen recht. Die Kunst ist in Wirklichkeit eine Form der Übertreibung; und die feine Auswahl, in der die eigentliche Seele der Kunst besteht, ist nichts als der höchste Grad der Unterstreichung.

      In kurzer Zeit aber hatte das Leben die Vollkommenheit der Form zerstört. Schon bei Shakespeare sehen wir den Anfang vom Ende. Er verriet sich in dem allmählichen Zerfallen des Blankverses der späteren Dramen, dem Vorwiegen der Prosa, und der übergroßen Sorgfalt, die auf die Charakterzeichnung verwandt ist. An jenen Stellen Shakespeares – und es gibt deren viele – in denen die Sprache roh, vulgär, überladen, verzerrt, sogar obszön ist, trägt nur das Leben die Schuld, das Leben, das nach einem Echo seiner eigenen Stimme ruft und den Einspruch des schönen Stils zurückweist, der ihm zum alleinigen Ausdruck dienen sollte. Shakespeare ist als Künstler durchaus nicht unantastbar. Er liebt es zu sehr, aufs Leben selbst zurückzugehen und sich des Lebens Naturstimme zu leihen. Er vergißt, daß die Kunst alles aufgibt, wenn sie das Ausdrucksmittel ihrer Phantasie aufgibt. Goethe sagt einmal: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Diese Beschränkung aber, die eigentliche Bedingung jeder Kunst, ist der Stil. Indes, wir brauchen nicht länger bei dem Realismus Shakespeares zu verweilen; der ›Sturm‹ ist die vollkommenste aller Palinodien. Wir wollten nur darauf hingewiesen haben, daß die herrliche Kunst des Zeitalters der Elisabeth und des Jakob schon den Keim der eigenen Auflösung in sich trug, und wenn Shakespeare einen Teil seiner Macht dadurch erhielt, daß er das Leben als rohes Material benutzte, so liegt die Schwäche der übrigen Künstler dieser Zeit darin, daß sie die Form des Lebens als künstlerische Form anwandten. Die unvermeidliche Folge dieser Substitution eines rein nachahmenden für ein schöpferisches Mittel, dieses Aufgebens der phantasievollen Form, erleben wir im modernen englischen Melodrama. Die Charaktere dieser Dramen reden auf der Bühne, wie sie im gewöhnlichen Leben reden würden; sie sind unmittelbar dem Leben entnommen und entfalten seine ganze Gemeinheit bis in die kleinste Kleinigkeit; sie geben den Gang, das Wesen, die Kleidung und die Sprache wirklicher Menschen; sie könnten dritter Klasse fahren, ohne auch nur im geringsten aufzufallen. Aber wie langweilig sind diese Dramen, trotz alledem! Es gelingt ihnen nicht einmal, jenen Eindruck der Wirklichkeit hervorzurufen, den sie beabsichtigen und um dessentwillen sie allein bestehen. Der Naturalismus als Methode künstlerischen Sehens ist nichts als ein Fehlgriff.

      Was vom Drama und vom Roman gilt, gilt nicht minder von denjenigen Künsten, die wir die schmückenden Künste nennen. Die Geschichte dieser Künste in Europa ist die Geschichte des Kampfes zwischen dem Orientalismus und unserem eigenen Trieb zum Nachahmen. Der Orientalismus weist jede bloße Nachahmung von sich, er liebt eine konventionelle Zeichensprache und haßt die wirkliche Darstellung von Naturobjekten. Überall, wo der Orientalismus die Oberhand behalten hat, sei es durch unmittelbare Berührung wie in Byzanz, Sizilien und Spanien, oder wie im übrigen Europa durch den Einfluß der Kreuzzüge, sind herrliche Werke des Schöpfergeistes entstanden, in denen die sichtbaren Dinge des Lebens künstlerisch umgewandelt, und solche, die das Leben nicht kennt, zu seiner Lust erschaffen wurden. Überall aber, wo wir zu dem Leben und der Natur zurückkehrten, ist unser Schaffen vulgär, gemein und uninteressant. Die übertriebene Perspektivwirkung, die weiten Flächen überflüssigen Himmels, der bis ins kleinste gehende Naturalismus moderner Tapeten ist ohne jede Schönheit. Die Glasmalerei der Deutschen ist einfach abscheulich. Unsere englischen Teppiche fangen an erträglich zu werden, aber nur, weil wir zu der Methode und dem Geist des Orients zurückgekehrt sind. Durch die ernsten, niederdrückenden Wahrheiten, die sinnlose Naturanbetung, die schmutzige Wiedergabe sichtbarer Dinge sind unsere Decken und Teppiche der siebziger Jahre selbst dem Philister ein Gegenstand des Gelächters geworden. Ein feingebildeter Mohamedaner sagte mir einmal: ›Ihr Christen seid so sehr beschäftigt, das vierte Gebot zu mißdeuten, daß ihr noch nie daran dachtet, eine künstlerische Anwendung des zweiten zu machen.‹ Er hatte ganz recht, und der Kern der Sache ist der: Die wahre Lehrmeisterin der Kunst ist nicht das Leben, sondern die Kunst.«

      Und nun möchte ich dir eine Stelle vorlesen, die mir die Sache in sehr vollkommener Weise zum Abschluß zu bringen scheint:

      »Es war nicht immer so. Wir brauchen nicht erst von