Dietmar Schubert
Mauerzeit - Traumzeit
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Inhaltsverzeichnis
Der geheimnisvolle Waldsee (1)
Der erste Schultag mit Überraschungen
Drehmaschinen und Waschmaschinen
Efpi und die Friedensbewegung im Westen
Der geheimnisvolle Waldsee (2)
Die Schülerband mit dem Namen …
Der geheimnisvolle Waldsee (3)
Quadratische Funktion in Granit
Der geheimnisvolle Waldsee (4)
August 1975 – Berlin
Es ist ein eigenartiges Jahrzehnt. Die Welt ist bipolar aufgeteilt und der Kalte Krieg scheint kurz Pause zu machen. Es ist im Westen das Jahrzehnt der Stones, Deep Purple, Abba, The Sweet und Middle Of The Road. Es ist im Osten das Jahrzehnt von Renft, Electra, Lift, Puhdys und Stern Meißen. Es ist im Westen das Jahrzehnt der 68er, der APO, erste Ölkrise, Willy Brandt, Helmut Schmidt, RAF und Deutschem Herbst. Es ist im Osten die vorsichtige Liberalisierung der beginnenden Honecker-Ära, die den provinziellen Mief der Ulbricht-Ära abgelöst hat und in der das Woodstock des Ostens, die X.Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Berlin, noch intensiv nachwirkt.
Die Lethargie und Endzeitstimmung der 1980er sind Mitte der 1970er noch in weiter Ferne.
Berlin – die geteilte Stadt - zu dieser Zeit an diesem Ort, an einer EOS. Die Besten der Besten lernen hier. Gesiebt wird bei der Zulassung heftig; Leistung und Weltanschauung müssen stimmen und die Eltern auch, am besten beide Arbeiterklasse. Aber zwischen Weltanschauung und Weltanschauung können Welten liegen. Darf man sagen, was man denkt? Manchmal ja, manchmal nein, manchmal hat man Glück.
Silke, Holger, Efpi, Gunther, Ina und wie sie alle heißen, leben genau in dieser Zeit an diesem Ort. Schule, Schülerband, erste Liebe und viele Träume haben sie.
Silke
Ich verstehe nicht, warum ich in meinem Zuhause nicht auch mal die Tapete diagonal an die Wand kleben und mit blauen Punkten verzieren darf, weil blau meine Lieblingsfarbe ist. Ich will doch deswegen mein Zuhause nicht einreißen, ich möchte es nur schöner machen.
Holger
Mädchen waren für mich bisher dufte Kumpels, mit denen ich über Sport, Musik, Gott und die Welt quatschen konnte oder doofe Zicken, die über jeden Mist kichern.
In mir ist etwas nicht mehr so wie früher, der Traum in einer gerechten Welt zu leben.
Eine Geschichte der Generation Mauer, die in den 1970ern so gewesen sein kann.
Der geheimnisvolle Waldsee (1)
Ich bin verliebt – in Silke. Bei der Klassenfahrt, in den Frühjahrsferien Anfang Mai, hat es zwischen uns gefunkt, wie bei einem Sommergewitter. Der See im Wald neben der Jugendherberge, die Halbinsel, der Baum mit seinen knorrigen Wurzeln und wir beide stehen eng umschlungen. Meine Hände wühlen in Silkes langen, blonden Haaren, die bis auf die Jeans reichen. Unsere Lippen sind ganz fest aneinander gedrückt, unsere Zungenspitzen berühren sich und spielen miteinander. Das Gefühl ist Wahnsinn, es ist das Von-Silke-Träumen-Kribbel-Gefühl.
Die letzten Augusttage sind heiß und machen den Abschied von zwei Monaten Sommerferien schwer. Nächste Woche geht Schule wieder los – mit der 10. Klasse. Das Hunde-Katzen-Fahrrad-Sperrmüll-Abteil der S-Bahn ist mit Fahrrädern vollgestellt. Silke und ich stehen eng gedrängt zwischen Abteilwand und unseren Fahrrädern.
Die Enge ist unerträglich - durch die offenen Fenster dringt kaum Abkühlung, selbst wenn die S-Bahn fährt. Die Enge ist schön - Silke schmiegt sich an mich, ihre Arme hat sie um mich gelegt und ihre großen blauen Augen schauen mich verliebt an. Die Sonnenbrille keck über die Stirn in den Pony geschoben. Die karierte Bluse mit einem großen Knoten zusammengebunden und einen dunkelblauen Bikini drunter. Die Jeans reichen gerade soweit, dass ein Stück nackte Haut unterhalb des Knotens zu sehen ist.
Ruckelnd bleibt die S-Bahn in der Endstation stehen. Wir sind die Letzten, die aussteigen.
„Wo liegt dein Waldsee?“, fragt Silke.
„Ich fahre vornweg, du findest ihn nie!“, antworte ich.
Ich habe einen Lieblingsplatz, meinen Waldsee – namenlos und kreisrund liegt er in einem Talkessel. Kiefern reichen bis an sein Ufer; vereinzelt stehen große Buchen und Eichen zwischen ihnen. An drei Stellen ist ein kleiner Schilfsaum. Ein einziger, schmaler Pfad führt über die steile Uferböschung und endet auf einer kleinen Wiese direkt am See. Das Wasser ist klar, selbst in der Mitte des Sees habe ich schon bis auf den sandigen Grund gesehen.
„Pass auf!“, rufe ich Silke zu. Sie rast die Uferböschung hinab und bleibt nur eine Reifenbreite vor dem Wasser stehen.
„Wahnsinn, dein Waldsee!“, ist ihr erstes Urteil nach wenigen Augenblicken. Sie lehnt ihr Fahrrad gegen den umgebrochenen Baum, eine Hälfte liegt im Wasser und die andere auf der Wiese. Eine Wolke hat sich auf den blauen Himmel verirrt und findet auch noch den Weg vor die Sonne. Der See bekommt für