„Jetzt sag bloß nicht, dass dich das Anbaggern so angestrengt hat“, erwiderte Max. Er war sauer, schließlich hatte ihn die junge Schöne kaum beachtet. „Von mir aus kannst du deine Knochen schonen, im Stehen quatscht es sich sowieso besser.“
Nein, bitte bloß nicht weiterreden. Ist schon schlimm genug hier. Warum befindet sich das Leben in einer permanenten Wiederholungsschleife? Wie oft haben wir schon in dunklen Gängen vor Türen gesessen, von denen bereits der Lack abblättert, und darauf gewartet, die Zahnräder der Bürokratie sich einige wenige Millimeter weiter bewegen zu sehen. Ob wir wohl auch eines Tages mal hinter so einer Tür sitzen und im Rhythmus der zu Boden schwebenden Farbpartikel meterhohe Stapel von Akten in Ablagefächer sortieren? Was sollen wir denn sonst machen?
Als hätte er Karls Gedanken erraten legte Max los: „Na, mal wieder dem Tiefsinn verfallen. ‚Wie soll das denn alles werden? Die böse, böse Welt da draußen hat uns gar nicht lieb.’ Alter, du musst mal lockerer werden. Warst du eigentlich in den letzten sechs Semestern einmal in der Disco oder mit 'ner Frau aus? Oder doch immer nur Buchladen? Meine Oma hat mal gesagt...“
Karl sollte niemals erfahren, welchen Rat die alte Frau Stubenrauch ihrem Enkel gegeben hatte, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür des Prüfungsamtes ein zweites Mal.
„Du kannst jetzt rein.“
Wieder lächelte das Mädchen Karl zu und hielt ihm die Tür auf.
„Danke“, antwortete er ohne sie anzusehen, stand auf und hinkte mit gesenktem Kopf an ihrer Schulter vorbei in das Büro.
Hinter einem Nussbaumschreibtisch aus den zwanziger Jahren saß die Hüterin der Abschlussnoten und schob einen Aktenberg zur Seite. Sie sah Karl kurz an.
Mann, die sieht so alt aus wie ihr Schreibtisch. Und die Hornbrille...
„Guten Tag“ sagte Karl kaum vernehmbar und setzte sich auf die Vorderkante des Stuhls vor dem Schreibtisch.
Er kramte in seiner Kollegmappe und räusperte sich.
Wieso fragt mich diese Tante nicht was ich will?
Schließlich brachte er eine verknickte Postkarte zum Vorschein.
„Hier steht“, beendete er das Schweigen, „dass ich mir heute mein Magisterzeugnis abholen kann!“
Er legte das Beweisstück auf den Tisch und wies mit dem Zeigefinger auf das Datum. Ohne die Karte eines Blickes zu würdigen drehte sich die Frau auf ihrem Drehstuhl um und beugte sich über eine Schublade mit Hängeordnern, die aus einem Schrank an der hinteren Wand des Zimmers herausragte.
„Name?“ sagte sie monoton, ohne den Kopf zu wenden.
„Grün. Karl Grün. Meine Matrikelnummer ist…“
„Brauch ich nicht“, unterbrach ihn die Aktenbevollmächtigte und zerrte einen der Ordner heraus.
Stöhnend drehte sie sich in ihre alte Sitzposition zurück und schlug die Mappe auf dem Schreibtisch auf. Sie entnahm einige Blätter und breitete sie aus. Schließlich schob sie Karl eines von ihnen zu.
„Da unterschreiben!“
Karl zögerte einen Augenblick.
„Hätten Sie eventuell einen Stift?“
Die so Angesprochene verdrehte kurz die Augen und wollte gerade zu ihrem Lieblingsmonolog über das Organisationstalent von Studenten im Allgemeinen und deren Qualifikation für das wahre Leben im Besonderen ansetzen, als Karl einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke hervorzauberte.
„Hab ihn schon“, lächelte er triumphierend und kritzelte sein Autogramm auf das Formular. „Bitte sehr.“
Ohne etwas zu erwidern zog die Frau das Blatt wieder zu sich zurück, drückte einen Datumsstempel auf den oberen rechten Rand und schob es in eines der Ablagefächer, die sich zu ihrer Linken auf dem Schreibtisch stapelten. Anschließend überreichte sie Karl die übrigen beiden Blätter, die noch vor ihr lagen.
„Hier Ihr Zeugnis! Und die Magisterurkunde!“
Karl nahm die Dokumente entgegen und betrachtete sie kurz.
Eine Note betone nie.
„Das können Sie doch auch draußen lesen, oder?“ wies Frau Namenlos mit Zornesfalten und gestrecktem Zeigefinger zur Tür, „Sie sehen doch, was hier zu tun ist!“
Äh, nein! Sehe ich nicht.
Er stand auf und wollte schon zur Klinke greifen, als er sich noch einmal umdrehte.
„Danke! Dieser bedeutende Moment wird auf ewig in meinem Gedächtnis bleiben. Was für eine Festlichkeit!“
Und bevor die Angestellte des Prüfungsamtes etwas entgegnen konnte, war Karl schon durch die Tür verschwunden, die mit einem Knall hinter ihm zufiel.
Wieder auf dem Flur, atmete er erst einmal tief durch und blickte auf Max, der nun auf dem Stuhl Platz genommen hatte.
„Viel Spaß da drin. Die Dame ist von einer ansteckenden Fröhlichkeit!“
„Hä?“
„Tut mit leid, aber ich bin etwas in Eile. Muss noch zu einem dringenden Termin.“
Er klopfte Max kurz auf die Schulter, murmelte: „Man sieht sich!“ und humpelte davon.
Über die Stufen des Hauptportals trat er zurück auf den sonnigen Campus.
Und? Was fühlst du, Meister Grün? Nichts! Absolute Leere. Du bist weder besonders klug noch gebildet, weißt zwar, wie man eine Hausarbeit schreibt oder sich mit Pflichtseminaren durchs Semester mogelt, aber sonst... Ob diese ganzen Studis hier auf der Campuswiese wohl wissen, worauf sie da zusteuern? Magister und arbeitslos? Na bravo! Aber in der Sonne baden, das haben wir gelernt. Vielleicht soll ich sie warnen. Vielleicht muss ich hier und jetzt die anti-akademische Revolution ausrufen. Vergesst euren Kopf, alle Macht der Hand!
Eine solche krachte mit Wucht auf seine Schulter. Karl drehte sich um und musste lachen. Vor ihm stand sein alter Schulfreund Steve.
„Na, wovon hast du denn gerade geträumt?“
„Ach, nichts Besonderes. Hab’ gerade mein Abschluss -zeugnis abgeholt und wollte jetzt…“
„… mit mir feiern gehen“, fiel ihm Steve ins Wort, „ein guter Plan!“
Steve war einen halben Kopf größer als Karl und nichts an seinem Äußeren verriet ihn als Koch, er sah eher aus wie ein Holzfäller aus den Rocky Mountains. Doch nur sein Großvater war Kanadier und vierzig Jahre lang Buchhalter in einem Handelsbüro in Halifax gewesen. Ihm verdankte er seinen Vornamen.
„Du bist also jetzt komplett fertig?“
„In jeder Hinsicht“, antwortete Karl, „aber was machst du denn hier an der Uni?“
„Ich war bei der Studentenjob-Vermittlung. Ich suche jemanden, der mir beim Streichen hilft!“
„Heißt das, du machst wirklich…“
„…ja, mein Café an der Strandpromenade auf.“
Steve war ein Meister im Unterbrechen.
„Dann hast du deinen Job im „König“ aufgegeben?“
„Ja, Ende des Monats bin ich raus. Keine Lust mehr auf Stammessen. Pizza, Auflauf, Pizza, Carbonara, Pizza, Bolognese, Pizza...“
„Aber, warum hast du mich nicht gefragt, ob ich dir helfe?“ spielte Karl den empörten Freund.
„Weil ich dachte,