M. E. Wuchty
Neuanfang oder so ähnlich
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
„Ist es das wirklich? Das Beste, was ich erreichen kann?“
Mit dieser Frage fing es an und ich stellte sie mir im zarten Alter von 35.
Nun, ich stellte diese Frage nicht nur mir selbst, wobei sie eine gehörige Portion Selbstvorwurf enthielt, sondern auch einer höheren Instanz, deren Ernsthaftigkeit in Bezug auf mein gegenwärtiges Schicksal ich damit anzuzweifeln gedachte.
Manchmal tat ich das. Die Augen gen Himmel richten und ein ganz und gar unverschämt kindliches „Hä? Du beliebst wohl zu scherzen!“ in den Äther zu entlassen.
Die ganze harte Arbeit, all das Bemühen, Überwinden von Hindernissen und Tiefs, für gefühlt mehr oder weniger einen Schmarrn? Es ging mir nicht darum, mit 30 eine Million Euro auf dem Konto zu haben, oder einen Nobelpreis an der Wand oder ähnlich hochfliegende Ziele erreicht zu haben, ich wollte eine Perspektive! Dummerweise bot mir das, was ich hatte, nicht nur keine Perspektiven, mir graute richtiggehend davor, dass es so oder so ähnlich weitergehen würde.
An diesem bestimmten Tag stellte ich also mir und dem Universum diese Frage: „DAS? Allen Ernstes?!“ Ganz bewusst und weniger kindlich.
Um Ihnen die Situation leichter begreiflich zu machen, stelle ich mich jetzt am besten vor:
Ich, Carmen Royner, bin, wie bereits festgehalten, tattrige 35, Diplomingenieurin, arbeite im Lebensmittelbereich und ich habe einen Freund - oder so ähnlich. Außerdem bin ich die Tochter zweier bewundernswerter Menschen, die sich mit ihrer Hände und Köpfe harter Arbeit aus mehr oder weniger Nichts ein gemütliches, sicheres und liebevolles Heim geschaffen haben. Mein Bruder und ich waren stets gut genährt, gekleidet und geliebt und wurden, so gut es ging, auf das Leben vorbereitet.
Felix, der jüngere von uns beiden, war auch immer der „Bessere“, bei fast allem, egal, ob Sport, Schule oder was auch immer. Nur den Altersunterschied, den konnte er nie wettmachen, der kleine Streber. Für das Empfinden einer älteren Schwester, war er auch immer der Geliebtere. In den Zeiten, als man uns beide nicht unbeaufsichtigt allein in einem Raum lassen konnte, nannte ich ihn immer den „kleinen Prinzen“. Vor allem, um ihn zu ärgern und das hat es. Dennoch, ich hatte immer das Gefühl, er profitiere von dem, was ich mir hart erkämpft hatte und ich fand es unfair! Noch dazu wurde dieses kleine Balg von vorne bis hinten verhätschelt! Er durfte sich so viele Dinge erlauben, die ich mir im Leben nicht hätte erlauben dürfen! Unfair hoch Drei! Um zu erkennen, wie subjektiv die Wahrnehmung in diesen Situationen und vor allem diesem Alter ist und dass auch Eltern nur Menschen sind und schwierigere Kinder (und mein lieber Bruder war ein schwieriges Kind, glauben Sie den Worten unserer Mutter) mehr Aufmerksamkeit und „Arbeit“ verlangen, habe ich Jahre gebraucht. Es macht nichts, speziell in der Rückschau, denn so wurde ich die emotional Unabhängigere, schneller persönlich selbständig – hat Vorteile, kann einem aber auch manchmal ganz schön den Boden unter den Füßen wegziehen.
Mein lieber Bruder, diese kleine Intelligenzbestie mit einem IQ jenseits der Schallmauer, hat seine Begabung auch entsprechend genutzt und eine Karriere im akademischen Bereich eingeschlagen. Es wäre meiner Meinung nach auch Verschwendung gewesen, diesen begnadeten Theoretiker mit einem Talent zum Unterrichten, in der Privatwirtschaft zu verheizen.
Tja, die große Schwester hat zwar keine Chance auf den Nobelpreis (meinen IQ erreichen Sie locker mit einem Mittelklasseauto), aber dafür hab ich beim Hausverstand laut und deutlich „HIER!“ geschrien.
Sehen Sie, ich bin eine Frau, die ihre Freunde und Freundinnen dazu bringt, eine Selbsthilfegruppe mit dem Titel „Hilfe, meine Freundin ist praktisch veranlagt!“, zu gründen. Die Idee mit der Selbsthilfegruppe hatten übrigens zwei meiner lieben Freundinnen, als wir zu viert bei einem Brunch zusammen saßen. Eine der Vier darf, wie ich, Diplomingenieurin vor ihren Namen schreiben und hantiert auch genauso gern und geschickt mit Werkzeug. Irgendwann kam zur Sprache, dass sie für eine Nachbarin in deren Abwesenheit die Blumen gießt und wir begannen, uns zu überlegen, wie man sich das Leben diesbezüglich einfacher machen konnte. Lange Geschichte, kurzes Ergebnis: Wir waren am Ende bei einer Regentonne mit einem Wasserstandsmesser und Anschluss an die Wasserleitung, sowie einer zeitgesteuerten Pumpe angelangt. Die beiden anderen Frauen am Tisch sahen uns nur ungläubig an und beschlossen, sie gründen jetzt eine Selbsthilfegruppe mit eben jenem oben genannten Titel. Seither war das ein geflügeltes Wort. Und ja, ich besitze einen Bohrhammer und kann damit umgehen und ich weiß auch, wie man einen Hammer richtig herum hält. Reifen wechseln bei meinem Auto, Abblendlichter tauschen und das Auffüllen der Scheibenwaschflüssigkeit ist auch kein Problem.
Darüber hinaus bin ich nicht hässlich (glaube ich jedenfalls): Rotblondes, langes Haar, graublaue Augen, hohe Backenknochen, volle Lippen und meine 1,70 m passen recht gut in Größe 38. Abgesehen davon kann ich mich sowohl in Sportschuhen als auch in Highheels durchaus graziös bewegen, wobei ich, zugegeben, öfter in der flachen Variante anzutreffen bin.
Ich habe einen Job, bei dem ich mehr verdiene als der durchschnittliche Mann und ich habe auch keine Hemmungen, die Männer in der Firma, in der ich arbeite, herumzuscheuchen und ihnen zu sagen, wie herum die Welt sich dreht.
Oh, noch eines: Die Rolle des hilflosen Weibchens (gespielt oder nicht) liegt mir nicht, Mund halten auch nicht und bevor ich um Hilfe bitte, habe ich mich mit dem Problem wahrscheinlich schon drei Mal halb umgebracht. Letzteres ist zwar weder vernünftig, noch auf lange Sicht gut für die Gesundheit, aber ich wäre auch nicht die Erste, deren falscher Stolz sie an den Rande des Nervenzusammenbruchs bringt (ganz zu schweigen davon, dass meine innere Dramaqueen dann immer die Zeit ihres Lebens hat).
In kurzen Worten: Ich bin ein Albtraum für ungefähr 98% aller männlichen Egos. Und wie es schein, ganz besonders für das Ego jenes Exemplars, das sich da mein Freund nannte.