Das Bildnis des Dorian Gray. Oscar Wilde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oscar Wilde
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916331
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sich, daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War es nicht Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, der es als erster untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, der es in den farbigen Marmor seiner Sonettreihe gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es etwas Seltenes ... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein, was der Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das prächtige Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu herrschen – hatte es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich Magnetisches in diesem Abkömmling von Tod und Liebe.

      Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. Er entdeckte, daß er bereits an dem Hause seiner Tante vorbeigegangen sei, und ging stillächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal.

      »Spät wie immer, Harry«, rief seine Tante, ihm zunickend.

      Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, das nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so geschmacklos aufgeputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den besten Jahren, der so fahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, jener unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann.

      »Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry«, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie, daß er wirklich die berückende junge Dame heiratet?«

      »Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort zu bitten.«

      »Wie schrecklich«, rief Lady Agatha. »Dann sollte sich wirklich jemand ins Mittel legen.«

      »Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr Vater ein Kurzwarengeschäft in Amerika hat«, sagte Sir Thomas Burdon mit einem überlegenen Blicke.

      »Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, Sir Thomas.«

      »Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände und dabei jede Silbe betonend.

      »Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln.

      Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.

      »Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,« wisperte ihr Lady Agatha zu, »er meint nie im Ernst, was er sagt.«

      »Als Amerika entdeckt wurde,« sagte der radikale Abgeordnete und ließ einige langweilige Tatsachen vom Stapel. Wie alle Menschen, die bestrebt sind, ein Thema zu erschöpfen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. – »Wollte Gott, es wäre überhaupt nicht entdeckt worden«, rief sie aus. »Unsere Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist geradezu empörend!«

      »Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, wenn man's recht betrachtet«, sagte Herr Erskine. »Ich würde eher sagen, daß es nur aufgefunden wurden ist.«

      »Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige seiner Bewohnerinnen gesehen habe« antwortete die Herzogin zerstreut, »ich muß zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.«

      »Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris«, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein eigen nannte.

      »In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?« fragte die Herzogin.

      »Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry.

      Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe es ganz bereist in Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.«

      »Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu vervollständigen?« fragte Herr Erskine wehmütig. »Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.«

      Sir Thomas winkte mit der Hand. »Herr Erskine of Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.«

      »Wie schrecklich!« rief Lord Henry aus. »Ich kann rohe Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.«

      »Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot.

      »Ich verstehe Sie, Lord Henry«, murmelte Herr Erskine lächelnd.

      »Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut ...«, nahm der Baronet wieder das Wort.

      »War das ein Paradoxon?« fragte Herr Erskine. »Ich habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.«

      »Mein großer Gott!« sagte Lady Agatha, »was für eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.«

      »Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf.

      »Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich«, fuhr Lady Agatha wieder fort.

      »Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,« sagte Lord Henry, die Achseln zuckend, »außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heute modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.«

      »Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem«, bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.

      »Sicherlich«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven