Das Bildnis des Dorian Gray. Oscar Wilde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oscar Wilde
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916331
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gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. Jeder Einfluß ist unmoralisch – unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.«

      »Wieso?«

      »Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine natürlichen Gedanken und brennt nicht mehr in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind nur ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines anderen, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung. Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen – diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. Heutzutage haben die Menschen Angst vor sich. Sie haben ihre heiligste Pflicht vergessen, nämlich die gegen sich selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen darben und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen. Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft als der Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor Gott, als dem Geheimnis der Religion – das sind die zwei Dinge, die uns beherrschen. Und doch –«

      »Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach rechts, sei so gut«, sagte der Maler, der ganz in sein Werk vertieft war, aber doch gemerkt hatte, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er vorher nie darin gesehen hatte.

      »Und doch,« fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort, während er die Hand in der anmutigen Art bewegte, die er schon seinerzeit in Eton gehabt hatte, »ich glaube, wenn die Menschen nur ihr eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben würden, jedes Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden Gedanken ausdrücken, jeden Traum in Dasein umsetzen wollten – ich glaube, dann käme in die Welt ein solcher Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten, ja wir kämen vielleicht zu etwas Feinerem und Reicherem, als das hellenische Ideal war. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben verstümmelt. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, frißt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine Art Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung an ein Vergnügen oder die schmerzliche Wollust der Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist wohl gesagt worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer rosenroten Jugend und Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken gehabt, die Sie in Schrecken setzten, haben wachend und schlafend Träume gehabt, deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließ –«

      »Hören Sie auf,« stammelte Dorian Gran, »hören Sie auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort darauf, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, nicht nachzudenken.«

      Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die Basils Freund zu ihm gesagt hatte – ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte voll absichtlicher Paradoxie – hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt, die vordem nie berührt worden war, die er aber nun zittern und in seltsamer Wildheit schluchzen hörte.

      Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. Sie bringt keine neue Welt in uns hervor; schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße Worte! Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! Sie schienen die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare Gestalt zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, so süß wie die der Geige oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas so Wirkliches wie Worte?

      Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die ihm unbegreiflich geblieben waren. Jetzt verstand er sie. Plötzlich bekam das Leben für ihn lodernde Farben. Nun schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer gewandelt. Warum hatte er es nie gemerkt?

      Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden Lächeln. Er verstand sich gut auf jenen psychologischen Moment, in dem man kein Wort sagen darf. Er fühlte sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner Worte machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, das er mit sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis dahin Unbekanntes enthüllt hatte, und er fragte sich, ob Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche Erfahrung erlebe. Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte er das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge war!

      Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, kühnen Zügen weiter, die das Zeichen aller wahren Feinheit und Vollkommenheit sind, denn die kann der Kunst nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille gar nicht.

      »Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!« rief Dorian plötzlich aus. »Ich muß hinaus und mich im Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.«

      »Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser Modell gestanden. Du warst ganz ruhig. Und ich habe endlich den Ausdruck herausgebracht, den ich gesucht habe – die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat er es bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm nur kein einziges Wort glauben.«

      »Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. Vielleicht ist das der Grund, daß ich wirklich kein Wort von dem glaube, was er gesagt hat.«

      »Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben«, erwiderte Lord Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen Augen ansah. »Wir wollen zusammen in den Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im Atelier. Basil, laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit Erdbeeren darin.«

      »Gern, Harry. Klingle nur selbst, und wenn Parker kommt, will ich ihm sagen, was Ihr haben wollt. Ich muß erst den Hintergrund hier noch fertig machen und komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht zu lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als heute. Dies Porträt wird mein Meisterwerk. Wie es da steht, ist es schon mein Meisterwerk.«

      Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort Dorian Gray, wie er sein Gesicht hinter den großen, kühlen Blütenbüscheln der Fliedersträuche versteckte und fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke er Wein. Er trat nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Achsel. »Sie haben ganz recht, so zu tun«, sagte er leise. »Nichts hilft der Seele besser als die Sinne, sowie den Sinnen nichts besser als die Seele helfen kann.«

      Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. Er war ohne Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen Locken aufgewühlt und ihre goldblonden Strähnen in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man jäh aus dem Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel bebten, und ein geheimer Nerv zuckte leis an den scharlachroten Lippen, so daß sie beständig zitterten.

      »Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des Daseins – die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele heilen können. Sie sind ein wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, als Ihnen bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen dienlich ist.«

      Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf weg. Ein unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, anmutigen jungen Mann hin, der da neben ihm stand. Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht und der müde Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden Ton seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine Hände, kühl, weiß