Der Springer. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009279
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sagte Ani, dass Gnievotta vielleicht aus der Altmark abgezogen werde, vielleicht, das entscheide sich noch. Sie habe es von Nowacki.

      Katja richtete sich auf. «Im Ernst?», fragte sie, da sprangen ein paar freie Tage heraus für sie und Gnievotta. Vielleicht ging auch alles mal wieder Hals über Kopf.

      «Ich habe es dir unter uns Pastorentöchtern erzählt», sagte Ani warnend.

      «Ich halt schon meinen Mund», sagte Katja.

      Von Ani rannte sie zum Frisör. Die Frisöse riet ihr zu einer neuen Frisur, aber Katja entschied sich fürs Solide.

      «Mein Mann kommt morgen», sagte sie, «der hält mich glatt für verrückt.» An solchen Vorabenden kam sie nie mit sich zurecht. Die Jahre hätten da was abschleifen sollen, fand sie. Zuletzt warf sie ihre Entscheidung um. Vielleicht gefiel Gnievotta eine neue Frisur.

      Zu Hause mied sie den Spiegel. Sie band ein Tuch um den Kopf. Morgen früh würde nicht mehr viel davon zu sehen sein.

      Der Rest des Abends ging mit Hausarbeit drauf. Spät bezog sie die Betten neu, setzte sich vor den Fernseher und erwischte gerade noch das Ende eines Filmes.

      «War es ein Film?», fragte sie Bodo.

      «Es war eine Info», sagte der Junge und schaltete das Gerät aus.

      «Eine was?», fragte sie.

      «Eine Art Nachricht», sagte er gelangweilt.

      «Ach so», sagte sie, «ich habe dich nicht richtig verstanden, du kriegst ja die Zähne nicht auseinander.»

      Er lächelte unverblümt zu dieser Ausrede, diesem Bildungsrückstand, wirkte wie ein großes und gepflegtes Baby, und sie fühlte sich durchschaut.

      «Morgen bleibst du zu Hause», verlangte sie gebieterisch, «dein Vater kommt.»

      Es hätte der Ermahnung nicht bedurft, Bodo wäre auch so zu Hause geblieben, Er suchte das Gespräch mit dem Vater. Bisweilen schuf sich der junge Bodo Dialoge, in denen er sich völlig offenbarte. Dann standen sich zwei gleiche Partner gegenüber. In der Praxis sah es anders aus. Nicht nur, dass der Vater unregelmäßig kam, er hielt sich auch an Äußerlichkeiten, denen der Junge viel weniger Bedeutung beilegte, als die Eltern glaubten. Aus Missverständnissen ergaben 'sich Fehlurteile auf beiden Seiten.

      Übrigens brachte Gnievotta, der sich fremd und unbehaglich in seinen vier Wänden fühlte, Unruhe mit, Mann aus Mahagonny, Goldwäscher aus Klondike und im großen Revier zu Hause, nicht in der Wohnung, die ihn an ein Hotel erinnerte, Seemann auf blauen Straßen.

      Von alledem spürte der junge Bodo genügend. Verstimmt sah er zu, wenn der Vater die Zimmer seinen Vorstellungen anzupassen suchte, Lampen abnahm, Möbel rückte, Regale und Stellagen baute. Mürrisch half er mit, wenn ihn der Vater dazu aufforderte. Der junge Bodo verstand: Architekten hatten die Gewohnheiten vorherbestimmt, und Gnievotta sträubte sich gegen die Normierung seines Lebens oder eines Teiles davon.

      Anders die Mutter, sie fühlte sich wohl im Hochhaus. Ihren Bedürfnissen entsprachen Haus und Nebeneinrichtungen, die nahe Einkaufshalle, das Waschhaus. Für Bodo war sie ein Dutzendmensch, wie es sie genügend gab. Er folgte ihr beim Bummel durch Geschäftsstraßen, beobachtete, wie sie rechnete, gut und schnell. Selten unterlief ihr ein Fehler, ihr Wirtschaftsgeld ging auf. Eilig schlang sie Würstchen an Marktständen, löffelte Eis aus schlanken Bechern, trank Kaffee in Mokkastuben, aß hohe fette Tortenschnitten und klagte über Gewichtzunahme. Wo er konnte, drückte sich der junge Bodo vor diesen gemeinsamen Einkaufsgängen, peinlich berührt vom Gewöhnlichen, dem Hang der Mutter zu auffallender Kleidung, zu Ringen und Ketten. Sie trug am liebsten, was ihr nicht stand. Tüchtig war sie und ungemein mitteilsam. Veränderungen, die sie nicht selbst umständlich eingeleitet hatte, fürchtete sie.

      Dem jungen Bodo widerstrebte diese geordnete Welt. Er ertappte sich bei der Vorstellung, die Mutter könnte plötzlich einen anderen Anspruch stellen, sich beispielsweise scheiden lassen, die kleine gesicherte Existenz aufs Spiel setzen. Darüber musste er lächeln, das war undenkbar. Hin und wieder beteiligte sich die Mutter an Vergnügungen, Ausflügen, Brigadefeiern. Solche Dinge bereiteten ihr Freude. Hörte man sie vorher, so glaubte man, sie sei im Begriff, etwas Unerhörtes zu unternehmen. Ihre Kleider, Mäntel, Schuhe, Frisur nahmen sie in solchen Fällen ganz in Anspruch. Hörte man sie nach solchen Festen, dann waren Lobreden auf die Frauen gehalten worden, von Männern, die nicht immer den richtigen Ton im Umgang mit den Frauen fanden. Kurz nach Mitternacht war die Mutter dann beunruhigt aufgebrochen, es hätte sein können, der Vater nutzte die Gelegenheit zu einem Seitensprung, oder es war etwas mit den Kindern geschehen, also mit ihm, Bodo, oder mit Elke. Es geschah ja immer dann etwas, wenn die Mutter nicht damit rechnete. Natürlich lag der Vater in tiefem Schlaf, wurde geweckt und verbat sich die Ruhestörung. Auch dass er nichts unternommen, war falsch. «Na ja», sagte der Vater, «und sonst war nichts, auch im Fernsehen war nichts.» Der dünnen Zimmerwände wegen konnte Bodo an solchen Gesprächen teilhaben.

      Aufgeräumt waren die Schränke der Mutter, Tassen und Gläser standen an ihren Plätzen, gefüllt war der Kühlschrank mit rohem Fleisch, Gemüse, Obst, Eiern, Butter, Milch und Wein. Immer war sie darauf vorbereitet, dass sich ein ausgehungerter Mann oder Sohn zu Tisch setzte. Soweit war das nicht der Rede wert, aber es gab Stunden mit der Mutter, die sie in einem anderen Licht zeigten. Zuverlässig traf sie in verfahrenen Lagen Entscheidungen. So robust der Vater aussah, mit seinen Niederlagen kam er zu ihr. Dann sagte sie: «Pfeif drauf, andere machen auch Fehler!» Ohne zu prüfen, ohne überhaupt prüfen zu wollen, wo im besonderen Fall der Fehler zu suchen, wo das Recht war, trat sie streitbar an die Seite des Vaters, und oft genug trat sie vor ihn.

      Mit der Mutter kam der junge Bodo schlecht aus, er wünschte sie geistiger, ließ sich nach alter Mütterweise bedienen, dankte ihr wenig oder gar nicht und schämte sich gelegentlich. Auf den Vater wartete er und vermutete mit Recht hinter kargen Äußerungen für ihn nützliche Erfahrungen.

      Am Sonnabend kommt Gnievotta früh an, gegen sieben etwa. Langsam fährt er mit dem Wagen durch leere Straßen. Gnievotta denkt an Nowacki, den er wegen der Arbeit sprechen will, obwohl er sich nicht allzu viel davon erhofft, auch Ani will er wiedersehen. Seine, Gnievottas, Wohnung im Fischerkietz ist ihm noch immer fremd.

      Drüben am Spittelmarkt hatte Nowacki ihre Waffen versenkt, an einem trüben, regnerischen Apriltag war das gewesen. Merkwürdigerweise hatten sie keinen Menschen gesehen; außer zerstörten Kriegsfahrzeugen, mit Kalk bestreuten Pferdekadavern und ihnen waren die Straßen leer gewesen.

      Nowackis Arm hing in einer schwarzen Schlinge. Sie, Angermann, Gnievotta und natürlich auch Nowacki, wussten damals noch nicht, dass er diesen Arm verlieren würde. Sie standen am Geländer der Spree, auf der tote Soldaten und Zivilisten trieben. Nowacki ließ seinen Karabiner ins Wasser fallen. Ihre Gewehre warf er hinterher. Angermann sagte, er würde jetzt gehen und was Vernünftiges tun. Um seine Schultern hing eine durchlöcherte Schlafdecke. Außer dieser Decke, den paar Sachen auf dem Leib und einem leeren Brotbeutel besaß er nichts weiter als das bisschen Leben, eine ganze Menge immerhin. Er gab Nowacki die Hand, das heißt, er nahm die linke, unverletzte Hand Nowackis und hielt sie lange fest, während er behauptete, er würde etwas Großartiges unternehmen. Er ging, mit zuckenden Schultern, ohne sich umzudrehen.

      Nowackis Augen glänzten fiebrig oder vor Erregung. Wohin Nowacki gehen würde, wusste Gnievotta nicht, der hatte niemand, der ihn aufnehmen konnte. Nowacki sank vor dem Geländer zusammen. Gnievotta stützte ihn. Nowackis Gesicht verfärbte sich. Aufgeregt nahm Gnievotta den Verband herunter. Der Arm sah böse aus, oberhalb des Gelenkes war ein eiternder, faulender Brei. Gnievotta suchte eine trockene Stelle der Binde und wickelte sie wieder um den Arm.

      «Komm mit nach Rügen», sagte er.

      «Nein», sagte Nowacki, «hau ab!»

      Irgendwie gerieten sie in einen erregten Wortwechsel. Zwei- oder dreimal schlug Gnievotta zu, um Nowacki zur Besinnung zu bringen oder um selber zur Besinnung zu kommen. Nowacki wischte das Blut nicht ab. Es rann von den aufgeschlagenen Lippen über das Kinn herunter auf den Waffenrock. Eine Gruppe Rotarmisten kam am Geländer entlang auf sie zu.

      «Hau