Der Springer. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009279
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dann arbeiteten sich ihre schweren Fahrzeuge bis auf den Lehmgrund durch. Während Gnievotta fuhr, dachte er an Nowacki. Er dachte auch an Kasch und an Laski, der das alles satt hatte. Es war, als habe Gnievotta eine Schuld an Nowacki abzutragen, etwas, was lange zurücklag und sich nur unklar bestimmen ließ. Am deutlichsten stand Gnievotta noch die Stimmung jenes Apriltages fünfundvierzig vor Augen: Ein trüber, kühler Morgen, träge zwängte sich die Spree zwischen hohen Ufermauern. Damals hatte sich Nowacki als entschlossen erwiesen, hatte ihnen, Gnievotta und Angermann, zu einer neuen Einsicht verholfen, zu der, dass nach diesem Krieg ihre Zeit begänne. Ein ungerechtfertigter Optimismus, denn dem damals dreiundzwanzigjährigen Nowacki ging es dreckig. Selbst Angermann, der heute Chemiker, Pflanzenphysiologe und wer weiß was noch ist, musste hinter Nowacki zurücktreten.

      Von Schuld konnte keine Rede sein, dann hätte sich Gnievotta auch Kasch oder Laski gegenüber verpflichtet fühlen müssen oder sonst wem, dem er eine Erkenntnis verdankte, eine geöffnete Tür, den Anstoß für eine Unternehmung. Also nicht Schuld, sondern ein Gefühl der Unterlegenheit?

      Über Stendal erhoben sich, schon von Weitem sichtbar, die Kirchtürme des Domes und der Stiftskirche. Die Letztere schien bloß die Ältere, ihrem Zustand nach, mindestens aber war sie die Vornehmere. Ein paar Krautjunker oder reiche Bürger mochten sie einst gebaut haben. Später kamen vielleicht noch andere Kirchen hinzu, überflüssig, damals wie heute, aber sie behaupteten ihren Platz, verlangten Achtung vor ihrem ehrwürdigen Alter und noch mehr Mittel zu ihrer Erhaltung. Auf einem Platz stand ein steinerner Engel über einem tauben Brunnen, in dem Abfälle lagen. Baudenkmäler waren Gnievotta ziemlich gleichgültig. Er holte die Post, kaufte Zeitungen, Tabak, Zigarillos und Zigaretten, einige Flaschen Kornbrand, Doppelkorn, auf dessen Güte sein Trupp derzeit schwor, einige Kästen Bier. Reichlich Zeit ließ er sich, aß spät zu Mittag in einer Kneipe am Rathaus.

      Dann fuhr er zurück. Den Jeep parkte er auf einer Anhöhe.

      Er war dem Bohrfeld schon so nahe, dass er den Maschinenlärm hören konnte. Die Geräusche störten ihn nicht, im Gegenteil, hätten sie gefehlt, würde er vielleicht weitergefahren sein. Mit dem Rücken lehnte er gegen das heiße Metall der Karosserie und öffnete eine der Flaschen. Sachte ließ er sich zu Boden gleiten, in den Schatten des Wagens. Der warme Schnaps schmeckte abgestanden, schal, aber Gnievotta trank ihn in langsamen Schlucken.

      Zwei Briefe fand er in der Post, den einen von seiner Mutter, den anderen von Katja. Er riss beide Umschläge zugleich auf und begann den kürzeren der Briefe zu lesen, den von seiner Mutter. Sie schrieb, dass sie anbauen werde, und der Sohn solle sich mal wieder blicken lassen in Altefähr. Wörtlich schrieb sie: Die Kirschen waren reif, aber niemand kam sie ernten. Das klang nach Vorwurf. Wahrscheinlich enthielt auch der andere Brief Vorwürfe. Er war ziemlich lang, und Gnievotta las ein paar Klagen Katjas über das Verhalten der Kinder. Es gebe Schwierigkeiten mit Bodo, aber auch mit Elke, schrieb Katja, schrieb es mit den sauberen kleinen Buchstaben, die auf technischen Zeichnungen zu sehen sind. Gnievotta seufzte verdrossen und schob die Briefe in die Umschläge zurück.

      Die Sonne stand schon niedrig über dem Wald streifen, als er sich entschloss, weiterzufahren. Ihr schräg einfallendes Licht färbte das trockene Gras zinnoberrot, es war ein überraschender Farbklang. Eine Lerche hielt sich sehr hoch überm Feld; ein zappelnder Käfer an einem dünnen, nicht sichtbaren Faden. Die Hitze hatte sich noch gesteigert. Jetzt gab der Boden die über den Tag gespeicherte Wärme wieder ab.

      Auf dem Weg, der von hohen Pappeln gesäumt war, kamen Gnievotta die rückkehrenden Fahrzeuge entgegen, Geländewagen, Laster, Motorräder, Mopeds. Es lohnte nicht mehr, aufs Feld hinauszufahren, zum Schichtwechsel käme er doch zu spät. Gnievotta wendete und setzte sich mit dem Jeep an die Spitze der Kolonne, die langsam ins Lager rollte, eine heimkehrende, nicht mehr ganz muntere Armee, lange Staubfahnen hinter sich lassend.

      Gnievotta holte Kosch und Laski in den Geschäftswagen. Sie zogen die Gummistiefel von den Füßen. Laski entnahm dem Kühlschrank Eisstücke und verteilte sie gleichmäßig auf ihre Plastbecher, die Kosch mit Kornbrand auffüllte, sorgfältig, um nichts zu verschütten. Den Rest der Eisstücke schoben sie unter die verschwitzten Hemden, auf ihrer Haut schmolz das Eis schnell.

      Laski gab die erste Runde Karten. Gnievotta reizte Grand, obwohl er sich nur vier sichere Stiche ausrechnete. Da er Mittelhand spielte, war die Sache ungewiss. Die beiden Buben nutzten nicht viel. Den Grand verlor er, und sie tranken.

      «Anfänger», sagte Kosch geringschätzig.

      Er habe es tun müssen, sagte Gnievotta, zwei Wenzel und drei Asse habe er gehabt.

      An und für sich, erklärte Laski, sei ein solches Spiel zu gewinnen, aber das sei Papierrechnung. Man wisse nie, wie sich ein Grand entwickle, dafür sei es Spiel. Niemand könne auch vorhersagen, was morgen oder übermorgen geschehe. Ungewissheit sei stets das Schlimmste an einem vorausgeahnten Übel.

      «Spuk man wieder vor», sagte Kosch, «beschrei es.»

      Achtundfünfzig Augen habe er bekommen, immerhin, sagte Gnievotta, um nur drei Augen habe er dieses Spiel verloren.

      Sie wussten, dass ein anderes Gespräch fällig war. Kosch musste auch zurück zur Schicht. Trotzdem gab er eine neue Runde. Laski reizte mit Gnievotta ein kleines Farbspiel aus. Kosch reizte nicht mit.

      Die Sonne, deren Strahlen durch das Fenster des Geschäftswagens fielen, zeichnete rötlichen Glanz in Kaschs gelbe Augen, die scharf und stechend waren wie der Blick eines Geiers. Die Haut seines mageren, faltigen Gesichtes mit den schmalen grauen Lippen erschien in diesem Licht wie stumpfes Umbra, das dünne Haupthaar in einem fahlen Blond. Nur schwer ließ sich das Alter dieses grobknochigen Mannes bestimmen. Er stieß die Worte in dem knarrenden, rollenden Dialekt, der im Erzgebirge gesprochen wird, hervor, leitete seine Rede mit bestimmten Wendungen ein und schloss sie ebenso, wobei er seine Geieraugen fest auf den Mann richtete, den er ansprach. Mehr als einem wurde unter diesem Blick unbehaglich. Er war ein guter Erzähler, und er trug seine vorgeblich erlebten Geschichten immer in einem bemühten Hochdeutsch vor, was ihnen großes Gewicht verlieh. Im Lager war er eine der großen Legendenfiguren.

      Kreuz, sagte Laski, und er werde sich eine oder zwei Stunden hinhauen und dann Kasch ablösen.

      «Alsdann», sagte Kasch.

      Laski spielte eine rote Zehn an. Das konnte nur heißen, er besaß das dazugehörende As. Ausgetragenes Kind, dieser Laski. Neben dem untersetzten, stämmigen Gnievotta und dem langen vertrockneten Kasch, wirkte Laski klein oder sogar schwächlich, aber er hielt Schritt mit beiden; zäh, schnell, findig war er, misstrauisch und querköpfig. Sein Haar, auf der Mitte des eiförmigen Schädels stark gelichtet, stand hinten ab, wie bei einem kampflustigen Hahn. Aus blauen Augen konnte Laski manchmal überraschend sanftmütig blicken. Unter einer abwärts gekrümmten Nase trug er einen kräftigen Bart von schwarzer Farbe. Selten schloss Laski Freundschaft mit neuen Leuten. Er hasste Glücksritter und Zugvögel, die, auf der Suche nach leichtem Leben und hohem Verdienst, gelegentlich zu ihnen stießen. Als Schichtleiter machte Laski ihnen das Leben sauer. Wer sich aber halten wollte, wem wirklich an der Arbeit lag, der erfuhr, dass dieser sarkastische, zu bitterem Spott aufgelegte Mann den Gutwilligen schützte und deckte, wo er es vermochte. Als Folge dieser Erziehung fehlten stets Leute. Der Rest Stammpersonal, die zwei Dutzend, die Laski erzogen, hätten einen Turm bis zu den Sternen gebaut, würde man ihnen die Mittel dazu an die Hand geben, versicherte wenigstens Laski.

      Laski spielte die rote Zehn an. Er riskierte es, obwohl er damit rechnen musste, dass einer der beiden anderen überhaupt kein Rot in der Hand hielt. Dann wäre die Zehn weg gewesen. Entweder spielte Laski ohne Lust, betäubt von dieser brutalen Sonne, oder er dachte an das fällige Gespräch über den Zustand ihrer Bohrmeißel, das sie stillschweigend auf einen anderen, besseren Tag verschoben hatten.

      «Gnievotta müsste eigentlich zur Schicht», sagte Kasch, «der ist heute den ganzen Tag spazieren gefahren.»

      Laskis rote Zehn ging durch. Natürlich besaß er das As und wusste genau, was er tat. Das war ärgerlich für Kasch und Gnievotta, die zusammen spielten. Gnievotta bediente die Trumpflusche, die Laski gleich darauf zog. Die Kleinen holen die Großen. Kasch gab folgerichtig den Kreuz-Jungen dazu und pfefferte mit Schwung