„Hast du noch einen Wohnungsschlüssel für uns?“
„Ja, aber nur einen; wenn ihr jeder einen haben wollt, könnt ihr welche beim Schlüsseldienst im Supermarkt machen lassen. Habt ihr etwas Geld?“
„Klar, aber noch nicht getauscht.“
„Okay, dann fahren wir zuerst in die Stadt zu einer größeren Bank, dabei zeige ich euch ein wenig vom Zentrum, anschließend kommen wir hierher zurück und ich zeige euch mein Viertel.“
„Super.“ Zufrieden räumen sie gemeinsam ab und bringen die Küche wieder in Ordnung.
Ibrahim nimmt Malik beiseite. „Wir haben keine Winterkleidung, kannst du uns was leihen?“
Malik lacht, „abgesehen davon, dass es noch lange nicht Winter ist … sicher, nehmt, was ihr braucht. Ihr findet Toucous und meine Sachen im anderen Zimmer im großen Schrank.“
Das Gesicht der Stadt Ende Oktober
Etwas später machen sich die Vier, abenteuerlich im Lagenlook warm angezogen auf den Weg zur Bushaltestelle. Die Neuankömmlinge bewegen sich noch etwas ungeschickt in ihrer schweren Ausrüstung. Ein halbherziger Nordwind schiebt die Wolken nur langsam voran und wirbelt lahm ein paar braune Blätter vor ihre Füße.
„Was für ein mieses Wetter!“, schimpft Malik, „ausgerechnet heute.“ Er zieht seine Kapuze etwas tiefer ins Gesicht und fordert die Freunde auf, es ihm gleichzutun. „Dieser feine Regen dringt überall ein. Ein Schirm bringt da gar nichts“, erklärt er mit leicht gesenktem Kopf gegen die heranstiebende Feuchtigkeit.
Ibrahim versucht sich an das zu erinnern, was er in der Schule gelernt hat. „Was ist denn jetzt für eine Jahreszeit? Ich dachte, unsere Ankunft fällt in den so genannten ‚Goldenen Oktober’, wo die Blätter an den Bäumen in allen Gelb- und Rottönen leuchten.“
„Wir haben jetzt Ende Oktober; da hat sich der Sommer endgültig verabschiedet. Wenn die Sonne scheint, kann es zwar manchmal um diese Jahreszeit noch sehr schön sein, aber spätestens die ersten Herbststürme reißen die Blätter regelrecht von den Bäumen.“
Dann kommt der Bus.
Natürlich staunen die Neuankömmlinge über den Luxus im Bus, über die heilen Sitzpolster, die Sauberkeit, die Federung des Wagens und den für afrikanische Ohren extrem leisen Motor. Aber die Zeit des Redens wird jetzt von der Zeit des Schauens abgelöst. Malik lässt seine Besucher am Fenster sitzen, damit sie einen ersten Eindruck von den Vororten einer norddeutschen Stadt bekommen.
Graue, mehrstöckige Wohnblocks fliegen an ihnen vorbei; hin und wieder wird diese Tristesse von kleinen, bunten Geschäften unterbrochen, in denen schon mittags das Licht brennt. Auch die neu aussehenden Autos haben die Scheinwerfer eingeschaltet und fahren im Schritttempo auf der verstopften Spur neben dem Bus. Einige wenige Passanten hasten mit hochgeschlagenem Kragen so schnell es geht an ihren Bestimmungsort. Die Menschen im trockenen, geschützten Bus machen keinen fröhlicheren Eindruck. Sie vermeiden jeden Blickkontakt, schauen missmutig aus dem Fenster oder mit in sich gekehrtem Blick auf einen imaginären Punkt. Viele ältere Leute sind um diese Zeit unterwegs.
„Wir sind gleich da, an der nächsten Haltestelle müssen wir aussteigen“, unterbricht Malik die Betrachtungen seiner Gäste.
Als der Bus anhält, erhebt sich auch eine schwerbehinderte alte Dame. Sie hangelt sich mühselig von Haltestange zu Haltestange. Amadou sieht das und greift ihr beherzt unter die Arme, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
„Lassen Sie mich los!“, schreit die Frau erschrocken auf. Aus lauter Angst vor einem potenziellen Überfall lässt sie die Stange los, um mit ihrer knöchernen, blau geäderten Hand ihre Handtasche zu sichern; dabei schwankt sie bedenklich. Amadou hat sie augenblicklich losgelassen und stammelt nun mit aufgerissenen Augen etwas wie ‚Entschuldigung’ in seiner Muttersprache. Das scheint der Frau aber noch mehr Angst zu machen, also schreitet Malik ein.
„Mein Freund wollte Ihnen nur behilflich sein“, beruhigt er sie auf Deutsch.
Sekou bemerkt, dass die Insassen des Busses den kleinen Vorfall sensationslüstern mit den Augen verfolgen, aber nur so lange, bis der Busfahrer von vorne ruft: „Wird das heute noch was? Ich muss mich an meinen Fahrplan halten.“ Die alte Dame steigt zögernd aus, und mit ihr die vier Afrikaner. Sie traut ihnen immer noch nicht über den Weg. Sekou blickt dem davonfahrenden Bus nach und erhascht noch einen Blick auf seine Insassen. Deren Blick ist wieder unbeteiligt nach vorne gerichtet, auf einen imaginären Punkt.
Amadou ist beleidigt, weil Malik ihn auslacht. „Du kannst nicht einfach hingehen und einer alten Frau unter die Arme greifen. Da muss sie doch denken, dass du sie überfallen willst. Hier in Deutschland werden oft alte Menschen überfallen.“
Schmollend antwortet Amadou: „Warum sollte jemand so etwas tun? Sie ist alt.“
„Vielleicht, weil sie gerade ihre Rente von der Bank geholt hat?“, antwortet Malik etwas genervt.
„Aber hier hat doch jeder genug Geld zum Leben!“
„Denkst du.“
Sekou blickt Amadou ungeduldig an. „Diskutiert das später aus und lasst uns jetzt endlich das tun, wozu wir in die Stadt gekommen sind.“
Sie spazieren durch eine blitzsaubere Fußgängerpassage mit wunderschönen Geschäften. Chromblitzend und hell erleuchtet animiert sie sogar Ibrahim immer wieder zum Anhalten. Malik freut sich über die Begeisterung seiner Gäste und zeigt ihnen stolz ‚seine’ Stadt.
Als sie nach stundenlanger Sightseeing tour ein Café verlassen, stellt Malik mit einem prüfenden Blick zum Himmel fest: „Es ist schon dunkel“, und zur Bestätigung der Vermutung schaut er noch auf seine Armbanduhr, „Toucou wartet sicher schon auf uns.“
Müde, aber zufrieden machen sie sich auf den Weg zurück in die Vorstadt. Als sie endlich bequem im Bus sitzen, fallen ihnen vor Erschöpfung fast die Augen zu; nur Amadou kommt nicht zur Ruhe. Die Glitzerwelt der Innenstadt hat ihn in ihren Bann gezogen. Mit sehnsüchtigem Blick verfolgt er durch die beschlagenen Scheiben, wie die leuchtende Stadt sich herzlos immer weiter seinen Blicken entzieht, wie sie, alleinigen Anspruch auf das Licht erhebend, es selbstsüchtig einsaugt und nur graue Kälte für die Umgebung übrig lässt. Hin und wieder wird diese graue Welt von einer trüben, schaukelnden Straßenlaterne unterbrochen und von erleuchteten Fenstern in den Wohnblöcken.
Sekou öffnet seine Augen einen kleinen Spalt und schaut aus dem Fenster. „Selbst die Bäume frieren“, meint er nachdenklich mehr zu sich selbst.
Vor Maliks Wohnungstür schnuppern die Ankömmlinge den köstlichen Duft eines einheimischen Gerichtes. Ihre Müdigkeit ist wie weggeblasen. Hastig fummelt Malik nach dem Schlüssel, da geht schon die Tür auf.
„Da seid ihr ja endlich“, strahlt Toucou sie an, „ich habe euch kommen hören. Das Essen ist fertig.“
„Super“, antwortet Malik und die drei Freunde nicken enthusiastisch. „Mhm, das riecht aber gut.“
Nach dem Essen hängen sie schlaff in den Sitzmöbeln, trinken zur Feier des Tages den teuren, aus der Stadt mitgebrachten Bananen- Kirschsaft und schauen halbherzig TV5monde.
„Morgen wird Toucou euch nach der Arbeit unser Viertel zeigen; dazu sind wir ja heute nicht mehr gekommen.“ Toucou nickt bestätigend.
„Und, habt ihr zu Hause angerufen, um zu sagen, dass ihr gut angekommen seid?“
„Natürlich, das haben wir heute Morgen gleich nach dem Geldwechseln gemacht“, winkt Malik mit einer beruhigenden Geste ab.
Die ‚Neuen’ fangen schon bald an, zu gähnen. Viele neue Eindrücke sind zu verarbeiten, aber für heute ist es genug. Auch die Küche wird heute nicht mehr aufgeräumt. „Das erledige ich morgen“, erklärt Sekou. Dann beginnen sie,