Sie haben einen ruhigen Flug. Um Mitternacht wird ihnen eine warme Mahlzeit serviert, die sie vorsichtig probieren. Das meiste davon bleibt unberührt. Als die Tabletts abgeräumt sind, wird das Licht über ihren Sitzreihen gelöscht, damit die Passagiere schlafen, oder sich einen Film ansehen können. Ibrahim, Amadou und Sekou wollen sich den Film ansehen. Erfreut über die Ablenkung setzen sie die Kopfhörer auf und versuchen eine entspannte Sitzposition einzunehmen. Die meisten Mitreisenden schlafen.
Ein gedämpfter Gong weckt Ibrahim und er schaut etwas verwirrt auf seine Freunde, die in abenteuerlichen Verrenkungen unter den dünnen Decken noch schlafen. Ein Passagier auf der gegenüberliegenden Seite hat die Verdunklung seines Fensters etwas hochgeschoben und zieht sich geblendet in seinen Sitz zurück. Die Flugbegleiterinnen rumoren in der kleinen Bordküche; die ersten Passagiere machen sich mit verschlafenem Gesicht und zerknitterter Kleidung auf Strümpfen auf den Weg zum Waschraum; manche haben nur Zahnputzzeug in der Hand, andere ganze Beutel mit Waschsachen. Es liegt ein abgestandener Geruch von Körperausdünstungen in der Luft. Ibrahim beobachtet, wie sich vor den zwei Waschräumen eine Schlange bildet und beschließt für sich, aufs Frischmachen zu verzichten. Er stupst Sekou und Amadou vorsichtig an.
„Hey, wacht auf, wir sind bald da.“ Dann schiebt er die Verdunkelung seines Fensters hoch und ruft begeistert aus: „Oh, seht euch das an!“
Sekou springt auf und drängt sein Gesicht gleichzeitig mit Amadou, der sich nur vornüberbeugt und dabei Ibrahim fast zerquetscht, an die Scheibe des ovalen Fensters.
Wahnsinn“, sagt Amadou fast andächtig und schaut auf die schneebedeckten Berge und den leuchtend blauen Himmel, „so etwas Schönes habe ich noch nie gesehen.“
„Ja“, stimmt Sekou ihm zu, „das ist wirklich grandios, so ruhig und majestätisch.“
Aus dem Lautsprecher verkündet die Stimme des Kapitäns, dass die Maschine gerade die Alpen überfliegt und die Passagiere sich glücklich schätzen können, dass heute kein Wölkchen die Sicht trübt.
Während des Frühstücks recken die Freunde ihre Hälse, um aus dem Fenster zu schauen, aber unterhalb ihrer Flughöhe türmen sich immer mehr Wolken zu regelrechten Gebirgen auf.
„Am liebsten würde ich hier oben bleiben“, sagt Amadou leise, mehr zu sich selbst als zu seinen Freunden.
„Warum das denn?“ Erstaunt lässt Ibrahim die halb erhobene Kaffeetasse wieder sinken. Sekou hört auf zu kauen und schaut beide gespannt an.
„Du bist doch derjenige, der immer da sein will, wo etwas los ist.“
„Ja klar, aber hier oben ist es so friedlich, es gibt keine Probleme, keine Krankheiten …“ Er sieht die Befremdung in den Augen seiner Freunde und beeilt sich, schroff hinzuzufügen: „Ach, lasst mich doch zufrieden.“
„Na also, da hört sich schon eher nach dir an.“
Der Anflug auf Hamburg beginnt. Das Flugzeug verlässt dazu seine Reisehöhe, den ultramarinblauen Himmel und die gleißende Sonne hinter sich lassend und taucht leicht schwankend in die watteartige Wolkendecke.
„Das ist ja unheimlich“, argwöhnt Amadou, „in diesem Nebel verliert man ja jede Orientierung.“
„Wieso, über den Wolken ist auch nichts, woran man sich orientieren könnte“, antwortet Ibrahim.
Sekou lehnt sich etwas vor und sagt nachdenklich zu Ibrahim: „Es kommt dir vielleicht komisch vor, aber ich habe das gleiche Gefühl wie Amadou. Die grauen Wolken sind wie eine undurchdringliche Wand, das Blau des Himmels dagegen ist irgendwie transparent, grenzenlos und unendlich. Meiner Fantasie ist dort kein Limit gesetzt.“
In dem Moment stößt die Maschine durch die dicke Wolkendecke und gibt zögernd den Blick auf eine graubraune Landschaft frei. Ibrahim lehnt sich zurück, damit seine Freunde, die nun nicht mehr aufstehen dürfen, an ihm vorbeisehen können. „Anscheinend ist hier gerade Trockenzeit“, sinniert Amadou und schaut etwas enttäuscht auf die graue, mit Raureif bedeckte Ebene, die sich trostlos unter ihnen ausbreitet. Die Bäume stehen fast ohne Laub frierend an einem schiefergrauen Fluss. Das Flugzeug beschreibt eine Kurve und plötzlich taucht die Landebahn auf. „Na dann“, feixt Amadou unsicher und hält seine Hand hoch. Sekou und Ibrahim schlagen locker nacheinander ein.
Ankunft in Deutschland
Nach der Landung erledigen sie schleppend die erforderlichen Formalitäten und folgen dann den Pfeilen in Richtung Ausgang. Amadous und Ibrahims Gehörgänge sind von der Landung noch etwas lädiert, sie hören alle Geräusche wie durch Watte und es knackt und sticht in ihren Ohren. Um dem abzuhelfen, zupfen sie mit zur Seite geneigtem Kopf mehr oder weniger sanft an ihren Ohrläppchen. Sie reden kein Wort miteinander, aber sie denken alle das Gleiche: ‚Hoffentlich holt Malik uns wie versprochen ab.’
Als sie ihn hinter der Glasscheibe am Ausgang entdecken, stößt Ibrahim vor Erleichterung hörbar die Luft aus. Seine Freunde lassen ihre Reisetaschen von den Schultern und die Tüten auf den Boden rutschen und beginnen spontan einen imaginären Tanz mit coolen Rap- Bewegungen. Das ist Amadous Art, Anspannung abzuschütteln, aber auch Sekous, um Freude und Erleichterung auszudrücken. Eilige Passanten lächeln den drei Afrikanern im Vorübergehen freundlich zu, und als Amadou ihre Aufmerksamkeit mit einem perfekten Moonwalk auf sich zieht, bleiben sie sogar stehen und klatschen Beifall. Ibrahim verfolgt nachsichtig schmunzelnd die kindliche Begeisterung seiner Freunde und passt derweil auf ihr Gepäck auf.
Bei der Begrüßung ist die Freude auf beiden Seiten groß. Malik schließt für einen Lidschlag die Augen, um seine Sinne für den Duft der Heimat zu schärfen, der den frisch Angekommenen trotz Klimaanlage im Flugzeug immer noch anhaftet. Er riecht den Staub, der sich auf dem Weg zum Airport auf ihrer Kleidung gesammelt hat; er nimmt den leichten Desinfektionsgeruch der Seife auf ihrer Haut wahr, und er kann sogar noch ganz schwach den Geruch des Waschmittels in der Kleidung wahrnehmen, mit dem alle in Westafrika waschen. Seine Vorfreude auf die Neuigkeiten aus seinem Dorf und die von dort bestimmt mitgebrachten Spezialitäten, lässt seine Augen aufleuchten.
Für die Neuankömmlinge symbolisiert Malik das soziale Sicherheitsnetz, ein Stück Heimat in der Fremde, ohne das sie orientierungslos wären.
Exterritoriales Gebiet
Die kleine Sozialwohnung im vierten Stock eines Hochhauses platzt aus allen Nähten. In Maliks und Toucous winzigem Wohnzimmer drängen sich etwa ein Dutzend Landsleute auf einer durchgesessenen Couch um den niedrigen Tisch, auf dem Literflaschen Cola und Fanta und Gläser stehen. Ibrahim schüttet aus einem großen Plastikbeutel einen Teil der mitgebrachten frischen Erdnüsse in eine Schale.
Der Fernseher, auf TV5monde eingestellt, läuft in voller Lautstärke; es schaut jedoch keiner hin. Stattdessen wird laut und lebhaft geredet, ausgelassen gelacht und gestikuliert.
Malik hatte einigen Landsleuten Bescheid gesagt und fast jeder hat sich freimachen können, um die Frischlinge zu begrüßen, und um die eigene Sehnsucht nach Zuhause im Gespräch etwas zu lindern. Er selbst hat zu dem Zweck seine Schicht mit einem Kollegen getauscht. Am Tag vorher haben er und sein Mitbewohner Toucou im Afroshop alles für ein großes Willkommensessen eingekauft und für ihre Verhältnisse viel zu viel Geld ausgegeben.
Die verblichenen Vorhänge im Wohnzimmer sind zugezogen. Alles Unangenehme, grelles Licht, Hitze oder Kälte, Staub und Straßenlärm bleiben so ausgesperrt. Das Tageslicht dringt nur schwach durch die bunten Stoffbahnen und taucht den Raum in ein diffuses Dämmerlicht. Es hüllt die Anwesenden ein und schützt sie wie in einem Kokon.
Draußen quält sich verbissen eine herbstliche Sonne durch den Hochnebel, wischt eilig den Himmel klar - denn ihr bleibt nicht viel Zeit - und vertreibt mit ihrer zunehmenden Wärme jeden Gedanken an Raureif oder Bodenfrost