Ihr Mann schießt Blicke wie glühende Speerspitzen in ihre Richtung. Er richtet sich auf und wirkt auf einmal gar nicht mehr gebrechlich. „Weib, halt dich da raus!“
„Nein, das tue ich nicht.“ Resolut zerrt sie an dem Knoten ihres Wickeltuches und nickt nachdrücklich mit gesenktem Blick. „Wir werden eine Lösung finden.“
Ibrahim schaut seinen Schwager von der Seite an. „Was ist mit dir, Massamba?“, fragt er ihn vorsichtig und fügt diplomatisch hinzu: „Hättest du nicht Lust, mich als zweites Oberhaupt der Familie für ein Jahr zu vertreten?“
Massamba hebt erstaunt den Kopf und denkt erfreut: ‚Ja, warum nicht? Das wäre eine Arbeit nach meinem Geschmack. Ich wäre der Chef, und mit dem Alten würde ich schon klarkommen. Und wenn Ibrahim gar nicht wieder zurückkommen würde, könnte ich den Hof übernehmen. Ja!’ Mit leuchtenden Augen nickt er und signalisiert so seine Bereitschaft, für Ibrahim einzuspringen.
Nachdem sich alle Familienmitglieder von dem ersten Schrecken erholt haben, steht die Frage nach den Reisekosten im Raum.
„Amadou organisiert das Geld für sich und seine Eltern in der Stadt und Sekou und ich hoffen, dass sein Onkel bereit ist, einen Kredit aufzunehmen, um uns das Geld für die Flugtickets zu leihen. Aber bitte sprecht noch nicht darüber; Sekou muss ihn erst über die veränderte Situation in Kenntnis setzen.“ Alle nicken zustimmend.
„Aber wo werdet ihr wohnen?“, gibt Ibrahims Mutter noch zu bedenken.
„Wir haben vier Adressen von Afrikanern in Norddeutschland, zwei in Bremen und zwei in Hamburg. Malik, ihr kennt doch Malik, der schon so lange in Deutschland lebt?“ forschend blickt er in die Runde, und als alle bejahend nicken, fährt er fort: „also, dieser Malik wird uns in Hamburg vom Flughafen abholen und uns fürs Erste bei sich aufnehmen.“
Er verschweigt dabei aber, dass die zweite Adresse nichts weiter als der Name von Maliks Mitbewohner ist und die beiden anderen von zwei jungen Frauen in Bremen stammen, deren Bekanntschaft Amadou erst vor kurzem in der Herberge gemacht hatte. Eine davon wird die noch ausstehende Adresse von Sue sein. Mit ein paar Beschönigungen der Fakten schafft Ibrahim es also, nach einem nervenaufreibenden Verhör seine Familie zu beruhigen und sie von den Vorteilen einer solchen Reise für alle zu überzeugen.
Ruhe kehrt ein, einer nach dem anderen erhebt sich bedächtig, um schlafen zu gehen. Ibrahim, als Letzter auf der Matte sitzend, hält seine Mutter am Saum ihres Wickeltuches zurück, „Danke Mama“. Lächelnd beugt sie sich zu ihm hinunter und streicht ihm zärtlich über das Gesicht.
„Mach das Beste daraus, mein Junge, aber bleib dir selber treu.“ Dann zieht auch sie sich mit schleppenden Schritten zurück, der Vorhang zu ihrer Hütte schließt sich und Ibrahim atmet tief aus, alle Anspannung fällt nun von ihm ab.
Sein Blick wandert zum Himmelszelt hinauf. Da ist der Mond, ein vertrauter Anblick in seiner kleinen Welt. Nur sieht Ibrahim ihn heute mit ganz anderen Augen. Heute Nacht ist er für ihn ein Reisender, der cool und unbeirrt um die Welt wandert; ja, um die ganze Welt. Vielleicht ist er jetzt auch am deutschen Himmel zu sehen.
Eine starke Unruhe befällt den sonst so bedächtigen Ibrahim. ‚Ja, ich werde meine kleine Welt verlassen und in eine größere Umlaufbahn eintreten; denn, ‚wer nicht reist, kennt den Wert des Menschen nicht‘, hatte sein Großvater immer gesagt; und damit schüttelt er alle Zweifel ab. Jetzt ist er in Aufbruchsstimmung.
Sekou sitzt mit seinem Onkel auf dessen kleiner Veranda. Den Tee aus Malven- und Hibiskusblüten, den er schon nachmittags gekocht hat, haben sie nun gekühlt in Gläsern vor sich stehen. Sie haben noch keine Lampe angezündet. Nur das schwache Licht vom Nachbarn spiegelt sich für einen kurzen Moment in der rubinroten Farbe des Getränks, dann beschlagen die Gläser von der wärmeren Außentemperatur.
Als sein Onkel Gesprächsbereitschaft signalisiert, beginnt Sekou leise und konzentriert, ihm die neue Situation zu schildern. Er kann sich dabei Zeit lassen, denn er weiß, dass er in seinen Ausführungen nicht unterbrochen wird.
„Tja “, seufzt Onkel Louis, „du hast deine Pläne also geändert. Was soll ich dazu noch sagen? Ich kann dir keinen Rat geben, denn du weißt schon jetzt mehr als ich und ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du es ernst meinst. Nur hast du auch mal daran gedacht, dass die Bank mir einen höheren Kredit nicht ohne Sicherheiten bewilligen wird? Schließlich reden wir jetzt von einer Summe in Höhe von zwei Flugtickets, richtig?“
Sekou nickt und sagt vorsichtig: „Kannst du nicht das Haus als Sicherheit angeben?“
Onkel Louis schürzt skeptisch die Lippen. „Jaa“, sagt er gedehnt, und zupft mit seitlich geneigtem Kopf an seinem Ohrläppchen, „das könnte ich wohl … aber das tue ich nur ungern. Versteh mich nicht falsch, ich habe volles Vertrauen zu dir, und Ibrahim ist auch ein sehr vernünftiger Junge, aber das Risiko, dass ihr keine Arbeit findet oder sonst etwas dazwischen kommt, zum Beispiel, dass einer von euch krank wird, ist schon ziemlich beunruhigend. Im schlimmsten Fall bekommt die Bank mein Haus und ich sitze auf der Straße. Dann kann ich deinen Vater auch nicht mehr unterstützen.“
Sekou leugnet das Risiko nicht ab, versucht es aber abzuschwächen. „Ich verstehe genau, wovon du sprichst, Onkel, aber wir sind zu zweit, die den Kredit abbezahlen; einer von uns wird hoffentlich immer in der Lage sein, zu arbeiten.“
„Ja, aber was ist, wenn ihr gar keine Arbeit bekommt?“
„Wir haben uns bei denen erkundigt, die schon einmal dort waren und erfahren, dass es dort genügend schwere oder unangenehme Arbeit gibt , die die Deutschen nicht machen wollen, die obendrein noch schlecht bezahlt wird; aber Ibrahim und ich sind uns für keine Arbeit zu schade, die Geld einbringt.“
„Für Ibrahim und dich mag das gelten, aber was ist mit Amadous Träumen von einer Karriere?“
„Wenn wir erst einmal dort sind und er merkt, dass eine Karriere nicht über Nacht entsteht, werden wir ihn schon von der Notwendigkeit normaler Arbeit überzeugen.“
Der Ältere fühlt sich hin und her gerissen zwischen dem Vertrauen, welches er seinem Neffen und auch Ibrahim ohne Zweifel entgegenbringt und dem unbestreitbaren Risiko, dass die drei jungen Männer sich selbst und ihre Familien ins Unglück stürzen könnten.
Sekou unterbricht die düsteren Gedanken seines Gegenübers: „Onkel, wir fahren nicht nach Deutschland, um uns zu amüsieren.“
„Ich weiß, ich weiß.“
„Wir haben klar abgesteckte Ziele. Ibrahim möchte nach seiner Rückkehr einen Import- und Exportladen in der Stadt und ich hier ein Atelier für Instrumentenbau eröffnen. Dafür werden wir jeden Cent sparen! Selbstverständlich erst, wenn der Kredit abbezahlt ist.“ Er nimmt einen großen Schluck von seinem Bissap und wischt die von dem beschlagenen Glas feuchte Hand an seinen Jeans ab.
‚Ich komm‘ aus der Sache nicht mehr raus’, erkennt Onkel Louis, ‚also kann ich ebenso gut positiv denken. Was ist denn schon ohne Risiko in dieser Welt?’ Laut schießt er sein letztes Gegenargument, das des hilflosen Schwagers, ab. „Und dein Vater?“
Ertappt zuckt Sekou zusammen. „Da brauche ich wirklich deinen Rat. Er kommt ja alleine nicht klar und alle, die ihm jemals helfen wollten, hat er verscheucht.“
„Vielleicht“, murmelt sein Onkel, sich das Kinn kratzend, „vielleicht kann er zu mir ziehen, dann haben wir in meiner dienstfreien Zeit Gesellschaft aneinander und er kann mir ein bisschen mit dem Haushalt helfen. Wir könnten die Miete für seine Wohnung sparen und von dem Geld seinen Lebensunterhalt bestreiten. Ich weiß, dass dein Vater vieles noch bewerkstelligen kann; ihm fehlt nur die Motivation.“
Onkel und Neffe reden mit gedämpften Stimmen noch bis in die späte Nacht. Am Ende führt ihr Gespräch auf der Basis von Vertrauen und gegenseitigem Respekt, von Liebe und