Während Olivers Angelegenheiten sich in diesem vielversprechenden und günstigen Zustande befanden, ereignete es sich eines Morgens, daß der Schornsteinfegermeister Mr. Gamfield auf der Landstraße langsam seines Weges zog, in tiefem Sinnen über die Mittel und Wege, wie er seine Miete, wegen deren er von seinem Hauswirt schon zu wiederholten Malen gemahnt worden war, bezahlen sollte. Mr. Gamfield mochte den Stand seiner Finanzen noch so sanguinisch betrachten: es fehlten ihm immer noch fünf Pfund an der nötigen Summe, und in einer Art arithmetischer Verzweiflung zermarterte er sein Gehirn und mißhandelte seinen Esel, als er, am Armenhause angelangt, den Anschlag am Tore erblickte.
«Brrr!» sagte Mr. Gamfield zu dem Esel.
Der Esel war ebenfalls in tiefes Nachdenken versunken und beschäftigte sich wahrscheinlich gelegentlich mit der Frage, ob er einen oder zwei Kohlstrünke erhalten würde, wenn er die beiden Säcke Ruß, mit denen der kleine Karren beladen war, an Ort und Stelle gebracht hätte, und so trottete er denn weiter, ohne auf den Zuruf seines Herrn zu achten.
Mr. Gamfield stieß halblaut einen schweren Fluch aus, rannte dem Esel nach und gab ihm einen Schlag auf den Kopf, der jeden anderen Schädel, ausgenommen den eines Esels, zertrümmert haben würde. Dann ergriff er den Zügel und riß scharf an dem Kinnbacken des Tieres, um ihm in zarter Weise zu Gemüte zu führen, daß er nicht sein eigener Herr sei; durch diese Mittel gelang es ihm, den Esel herumzulenken. Dann gab er ihm einen zweiten Schlag auf den Kopf, um ihn bis zu seiner Rückkehr zu betäuben, und schritt, nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte, auf das Tor zu, um den Anschlag zu lesen.
Der Herr mit der weißen Weste stand, die Arme auf dem Rücken gekreuzt, vor dem Tore, nachdem er in dem Beratungszimmer einige tiefempfundene Wahrheiten zum besten gegeben hatte. Er hatte den kleinen Zwist zwischen Mr. Gamfield und dem Esel beobachtet und lächelte höchst vergnügt, als der Mann näher trat, um den Anschlag zu lesen, da er auf den ersten Blick sah, daß Mr. Gamfield gerade der richtige Lehrherr für Oliver sei. Auch Mr. Gamfield lächelte, als er das Schriftstück las, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte, und was den Knaben betrifft, den er dazunehmen sollte, so wußte Mr. Gamfield, dem es bekannt war, welcher Art die Kost im Armenhause war, daß es sich um einen ganz kleinen, schmächtigen Kerl handeln würde, wie geschaffen für die neuen Patentschornsteine. Daher las er den Anschlag noch einmal von Anfang bis zu Ende durch, faßte als Beweis für seine Höflichkeit an seine Pelzmütze und wandte sich an den Herrn in der weißen Weste.
«Dieser Junge hier, den das Armenhaus als Lehrling vergeben will ...» begann Mr. Gamfield.
«Ach, lieber Mann,» erwiderte der Mann in der weißen Weste herablassend, «was ist mit ihm?»
«Wenn das Kirchspiel ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk, das achtungswerte Schornsteinfegerhandwerk, erlernen lassen will, so brauche ich einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen.»
«Treten Sie näher», entgegnete der Mann in der weißen Weste. Mr. Gamfield lief erst noch einmal zurück, um dem Esel noch einen Schlag vor den Kopf zu versetzen und am Zaume zu reißen, als Warnung, er möge es sich nicht etwa einfallen lassen, in seiner Abwesenheit durchzugehen, und folgte dann dem Herrn mit der weißen Weste in das Zimmer, wo Oliver diesen zuerst gesehen hatte.
«Es ist ein schmutziges Gewerbe», erwiderte Mr. Limbkins, als Mr. Gamfield seinen Wunsch abermals vorgebracht hatte.
«Es ist auch schon vorgekommen, daß Knaben in den Schornsteinen erstickt sind», sagte ein anderer Herr.
«Das kam nur daher,» versetzte Gamfield, «daß man das Stroh naß machte, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen; es gab nur Rauch, aber keine Flamme. Rauch aber ist ganz unzweckmäßig, um einen Jungen herunterzuholen, denn er veranlaßt ihn nur zum Schlafen, und das eben ist es, was er will. Jungens sind widerspenstig und faul, meine Herren, und ein gutes Feuer ist das beste Mittel, sie rasch zum Herunterkommen zu bringen. Es ist auch ein ganz humanes Mittel, denn wenn sie in der Esse steckengeblieben sind, so arbeiten sie, wenn sie sich die Füße verbrennen, aus Leibeskräften, sich loszumachen.»
Der Herr in der weißen Weste schien sich über diese Erklärung höchlich zu belustigen, aber seine Heiterkeit wurde durch einen strafenden Blick, den ihm Mr. Limbkins zuwarf, sofort gedämpft. Die Direktoren berieten nun ein paar Minuten miteinander, aber in so leisem Tone, daß nur die Worte «Ersparnis» und «guten Eindruck bei der Abrechnung», die mit großem Nachdruck mehrmals wiederholt wurden, hörbar waren. Endlich hörte das Geflüster wieder auf, und Mr. Limbkins begann, nachdem die Herren mit feierlicher Miene wieder ihre Plätze eingenommen hatten: «Wir haben Ihren Vorschlag in Erwägung gezogen, können ihn aber nicht annehmen.»
«Unter keinen Umständen», fiel der Herr in der weißen Weste ein.
«Ganz entschieden nicht», erklärten die übrigen Mitglieder des Kollegiums.
Da auf Mr. Gamfield der leise Verdacht ruhte, daß schon drei bis vier Knaben in seinem Geschäfte das Leben eingebüßt hatten, so kam ihm der Gedanke, das Kollegium könnte vielleicht in einer ganz unbegreiflichen Laune daran Anstoß genommen haben. Bei der Art ihrer Geschäftsführung war dies zwar ganz unwahrscheinlich; da er aber keinen besonderen Wunsch hegte, diesem Gerüchte neue Nahrung zuzuführen, so drehte er seine Mütze in den Händen und entfernte sich langsam von dem Tische.
«So wollen Sie mir ihn also nicht überlassen, meine Herren?» fragte Gamfield, an der Türe stehenbleibend.
«Nein», erwiderte Mr. Limbkins; «wenigstens sind wir der Meinung, Sie müßten mit einer geringeren als der ausgesetzten Summe zufrieden sein, da es doch ein gar zu schmutziges Gewerbe ist.»
Mr. Gamfields Gesicht strahlte, als er rasch an den Tisch zurückkehrte und sagte: «Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie doch nicht zu hart gegen einen armen Mann!»
«Ich sollte meinen, drei Pfund zehn Schilling wären übergenug», gab Mr. Limbkins zur Antwort.
«Zehn Schilling zu viel», warf der Herr in der weißen Weste ein.
«Nun,» versetzte Gamfield, «sagen wir vier Pfund, meine Herren. Sagen wir vier Pfund, und Sie sind ihn auf immer los.»
«Drei Pfund zehn Schilling», versetzte Mr. Limbkins fest.
«Wir wollen den Unterschied teilen, meine Herren, drei Pfund fünfzehn Schilling.»
«Nicht einen Pfennig mehr», lautete die feste Entgegnung Mr. Limbkins'.
«Sie sind verdammt hart gegen mich, meine Herren», versetzte Gamfield niedergeschlagen.
«Ach, Unsinn», erwiderte der Herr in der weißen Weste. «Es ist ein gutes Geschäft, selbst wenn Sie gar nichts dazu bekommen. Nehmen Sie ihn nur, guter Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Er braucht ab und zu den Stock; das wird ihm sehr gesund sein, und seine Beköstigung braucht auch nicht sehr kostspielig zu werden, denn er ist nicht sehr verwöhnt worden, seit er hier geboren wurde. Ha, ha, ha!»
Mr. Gamfield blickte scheu auf die Herren rund um den Tisch, und da er auf den Gesichtern aller ein Schmunzeln bemerkte, lächelte er ebenfalls. Der Handel wurde geschlossen, und Mr. Bumble erhielt sofort den Befehl, Oliver Twist am Nachmittag dem Friedensrichter zur amtlichen Bestätigung des Lehrvertrages vorzuführen.
Demgemäß wurde der kleine Oliver zu seinem maßlosen Erstaunen aus seinem Kerker befreit und erhielt den Befehl, ein frisches Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als Mr. Bumble ihm eigenhändig einen Napf Hafergrütze und das sonntägliche Deputat Brot brachte. Bei diesem furchtbaren Anblick begann Oliver bitterlich zu weinen, denn er dachte ganz natürlich nicht anders, als daß ihn das Kollegium zu irgendeinem nützlichen Zwecke schlachten lassen wolle, denn sonst hätte es wohl schwerlich angefangen, ihn in dieser Weise fett zu machen.
«Heul dir die Augen nicht rot, Oliver, sondern iß und sei dankbar», sagte Mr. Bumble in würdevollem Tone. «Du sollst in die Lehre gegeben werden.»
«In die Lehre?»