Auf unserem Weg nach Killarney ließen wir die Städte Wexford und Waterford hinter uns und verschoben deren Erkundung auf später. Die Geschwindigkeit war auf fünfzig Kilometer pro Stunde beschränkt, was zwar für die Straßen mehr als angebracht war, ein schnelles Vorankommen aber unmöglich machte. Für fünfundzwanzig Kilometer bedurfte es fast eine Stunde und nach drei Stunden hatten wir noch nicht einmal die Hälfte unserer Strecke bewältigt. Zu unserer eigenen Überraschung gefiel uns diese Langsamkeit, es war, als hätte uns das Betreten der Insel verwandelt.
Wenn ich nicht gerade mit den Landkarten beschäftigt war, sprachen wir über das Grün der Wiesen. Noch niemals zuvor hatten wir solch ein strahlendes Grün gesehen. Ich konnte mich nicht beruhigen und starrte auf die Felder, als sähe ich etwas Unglaubliches. Zudem sahen alle Wiesen so verblüffend exakt gemäht aus, als hätte hier ein Zentimetermaß Anwendung gefunden. Aber es waren keine Rasenmäher, es waren die Schafe, die so genau arbeiteten, wie toll!
Wir hielten in dem netten kleinen Städtchen Fermoy, kauften in einem Supermarkt etwas fürs Abendbrot und wollten in Killarney anrufen, um dort mitzuteilen, dass wir zwar in Irland waren, aber viel später als geplant, wahrscheinlich nicht vor acht p.m. eintreffen würden. (Wir waren nun im englischsprachigen Raum, da hieß es nicht mehr zwanzig Uhr, sondern acht p.m.) Wir sprachen eine irische Passantin an, um herauszufinden, welche Münzen wir zum Telefonieren brauchen würden. „Are two pounds enough?“ Sie lachte und wollte wissen, welchen Kontinent wir anrufen wollen. „Just to Killarney.“ Für zwei IP (ein irisches Pfund hatte damals den Wert von 2,48 Deutschen Mark) konnte man offensichtlich stundenlang mit Killarney telefonieren. Es reichten zwanzig Pence. Wir waren sehr angetan von der unkomplizierten, hilfsbereiten und freundlichen Art der Dame. Bevor wir jedoch zum Telefonieren kamen, sprachen wir mit ihr über das Wetter, Land, Leute, Politik und Kirche und sie war interessiert daran zu erfahren, wie dies alles in dem Land sei, aus dem wir kamen. Am liebsten hätten wir uns mit ihr in einen pub (Gaststätte, Wirtshaus, Lokal, Kneipe) gesetzt und weitergeredet. Aber an uns heftete ja noch der deutsche Druck des Vorankommens.
Das Telefonat war ebenso erfreulich. Zusammenfassung: Kein Problem, der Schlüssel steckt. Nun konnten wir beruhigt unsere Fahrt ohne Eile fortsetzen. Wir kamen an einem der vielen Schlösser vorbei. Ich verdrehte mir den Hals, aber leider wollte Peter es jetzt nicht besichtigen. Schade. Es sah von außen schon so romantisch und geheimnisvoll aus. Sofort kamen mir Gruselfilme in den Sinn. Schauder erfüllte mich und ich musste lachen – vor Glück. Die vielen Eindrücke durchströmten mich und es war, als könnte ich jeden Stein, jeden Grashalm fühlen.
07. Killarney
Nach sieben p.m. kamen wir endlich in Killarney an. An der ersten Tankstelle fragte Peter nach dem Weg zum Ross Castle Holiday Home. Jeder kannte hier alles, erklärte einem mehr als man eigentlich wissen wollte und das alles in einer ganz herzlichen und verbindlichen Art und Weise. Schnell verloren wir jegliche Hemmungen, fremde Menschen anzusprechen. Der Weg zum gesuchten Ferienhaus war einfach und kurz. In einer neu angelegten kleinen Siedlung mit zwölf Doppelhaushälften fanden wir ein rosafarbenes, putziges Ferienhaus vor. Der Schlüssel steckte außen an der Haustür. Die Wände waren mit verschiedenen rosafarbenen Blümchentapeten beklebt, die Fußböden mit unterschiedlich blauen Teppichböden ausgelegt. Die verschieden bunt geblümten Stoffe von Vorhängen, Tapeten und Bettwäsche harmonierten nicht besonders, aber ich gewöhnte mich daran.
Es gab drei Schlafzimmer, ein Fernsehzimmer und eine perfekt ausgestattete Küche. Hier konnte man sich richtig wohlfühlen. Voller Überschwang rannte ich etliche Male die Treppe rauf und runter, deren Stufen wiederum mit einem anders geblümten Teppich belegt waren. Im oberen Stockwerk befanden sich noch zwei bunte Schlafzimmer und ein Bad, überwiegend in hellblau gehalten.
Nach dem Abendbrot mit all den Köstlichkeiten, die wir am Nachmittag in Fermoy erstanden hatten, fielen wir erschöpft und glücklich ins Bett.
Sonntag, achter August. Draußen regnete es, Irish Mist (Nieselregen). Die Wolkendecke tauchte die Landschaft in ein bedrohliches, aber faszinierend dunkel violettes Licht. Als könnte sie nie mehr ein Sonnenstrahl durchdringen, verdichteten sich die Wolken zu einem plastisch wirkenden Riesenmonster, das der Erde immer näher kam und sie zu zerquetschen drohte. Zehn Minuten später lockte uns bestes Wetter hinaus, keine einzige Wolke war mehr am Himmel. Langsam verstand ich, dass das Wetter in Irland ein wichtiges Thema war. Ich schloss die Augen und streckte mein Gesicht in den scharfen Wind. Ich spürte eine Macht, die mir weit überlegen war, nichts konnte ich dem entgegensetzen. Das Wetter, eine Gewalt, die auf sich aufmerksam machte und das Leben der Menschen hier bestimmte.
Fünfhundert Meter die Straße hinunter, am Ross Castle, begann der National Park. Der Spaziergang durch den weitläufigen Park war ein Genuss. Am Ufer des Lough Leane rasteten wir und beobachteten die Ausflügler auf ihren kleinen Motorbooten. Lough ist gälisch und heißt lake, also See, nicht zu verwechseln mit sea, dem Meer.
Das in seiner Urform erhaltene Ross Castle war beachtenswert, man konnte genau nachvollziehen, wie die Steine aufeinandergelegt worden waren. Dieses Gebäude aus sorgfältig gepflegten grauen Natursteinen stand inmitten grüner Wiesen, deren nasse Grashalme die Sonnenstrahlen reflektierten. Für Minuten bildete sich ein goldener Teppich unter gleißendem Dunst und zauberte eine märchenhafte Stimmung herbei. Die Natur gestaltete ein Licht – extravaganter und ergreifender als in jedem amerikanischen Spielfilm.
Wir gingen immer weiter, von einem Aussichtspunkt zum nächsten und legten schnell zwei Kilometer zurück. Um acht p.m. erst kehrten wir in unser Haus zurück, wollten aber doch noch in die Stadt.
Das Auto ließen wir auf halber Strecke stehen, dort, wo der nie endende Killarney Stau begann und setzten unseren Weg zu Fuß fort. Peter hatte schon ein Restaurant ausgesucht, berühmt für sein seafood: FOLEY`S in der High Street. Wir fanden es sogar.
Das FOLEY`S war vollgestopft mit Menschen und für uns war klar, dass es jede Minute wegen Überfüllung geschlossen werden würde. Zu Essen würden wir sicher auch nichts bekommen, wir hatten nicht reserviert. Wir lagen völlig falsch. Obwohl wir wegen Platzmangels noch nicht einmal mehr die Tür hinter uns schließen konnten, wurden wir sofort wie Gäste bei einer Familienfeier herzlich begrüßt, an eine Bar mit einer dunklen langgezogenen Theke im Eingangsbereich geleitet und gebeten, es uns gemütlich zu machen, bis ein Tisch frei werden würde. Die Atmosphäre war mitreißend, als wären wir bei der tollsten Party des Jahres gelandet. An der Theke gab es jede Menge Zapfhähne, drei für Stout, drei für Helles, Guinness, Smithwick`s, Murphy`s, Harp, Heineken und noch viele mehr. Die Wände waren gespickt mit Bildern und Fotos. Die schummrige Beleuchtung, die vielen kleinen Tischchen mit Hockern und wunderschöne antiquarische Möbel gaben dem Restaurant die Gemütlichkeit eines Wohnzimmers.
Es war üblich, erst einmal einen Drink an der Bar zu nehmen und sich zu unterhalten, mit allen, auch mit Leuten, die man gar nicht kannte. Dann wurde bestellt und irgendwann später wurde man an seinen Tisch geführt. Diese Form der Lebensart gefiel uns sehr. Wir fanden noch Platz auf einer Couch neben dem Klavier, nachdem andere Gäste bereitwillig zusammengerückt waren. Ich trank erst einmal half a pint vom Guinness. Das pint ist ein Hohlmaß, in den USA umfasst es 0,473 Liter, in Irland und England 0,568 Liter, in Süddeutschland würde man "eine Halbe" bestellen. Ein pint bekommt man automatisch, wenn man nicht ausdrücklich etwas anderes bestellt. Wir sahen uns neugierig um, genossen die lockere Atmosphäre und studierten nebenbei die Speisekarte. Es drückten laufend noch