04. Von Paris nach Le Havre
Freitag, sechster August. Ich fühlte mich noch etwas schlapp, aber der Brechreiz war weg. Ich konnte frühstücken. Peter buchte für den fünften September dasselbe Zimmer. (Nochmal das kleine Bett. Aber vielleicht würde ich ja dann wenigstens in der Lage sein, mir selbst meine Ohropax aus dem Auto zu holen.)
Wir fuhren ab nach Le Havre, nein, in die andere Richtung, aber wir merkten es schon nach vier Kilometern.
Wir durchquerten die malerische Normandie bei prächtigem Wetter, sahen außergewöhnliche Architektur am Rande der Autobahn, oder auch geschmacksabhängige Gebilde. Schilder wiesen auf Schlachtfelder des ersten Weltkrieges hin, jetzt weideten Kühe darauf. Nachdenklich betrachtete ich die weiten Felder und versuchte mir vorzustellen, wie die Menschen damals darauf gegeneinander kämpften. Bedrückend. Viel Zeit blieb mir nicht, traurigen Gedanken nachzuhängen, die nächste Abwechslung folgte in Form der außerordentlich imposanten Brücke von Tancarville, einer Hängekonstruktion, ähnlich der Golden Gate Bridge. Ich bat Peter, so langsam wie möglich darüberzufahren, damit ich es genießen konnte. Die Seine war breiter geworden, verzweigte sich an dieser Stelle und würde nicht mehr weit von hier ins Meer münden.
05. Die Überfahrt
Schließlich erreichten wir Le Havre. Die Beschilderung "CAR FERRIES" beruhigte uns. Der Hafen erstreckte sich über ein weit ausgedehntes Areal. Über eine halbe Stunde erforderte es, allein das Gelände bis zum Stützpunkt von Irish Ferries zu durchqueren. Es war dreizehn Uhr. Wir waren zu früh, aber nicht die Ersten. Die Mittagshitze brachte uns zum Schwitzen. Die Fähre würde laut Plan um fünfzehn Uhr ankommen. Nach kurzer Überlegung entschlossen wir uns, for lunch ein Restaurant zu suchen. Normalerweise fanden wir weder Orte noch Restaurants, aber diesmal hatten wir Glück, nach fünfhundert Metern sah ich ein Schild. Peter fuhr natürlich vorbei. Machte nichts, wir drehten um und aßen gut. Kurz vor fünfzehn Uhr waren wir zurück. Die Warteschlange war größer geworden. Die Tore gingen auf und die Autoschlange schob sich langsam in die "WAITING AREA". Dort standen wir nun, Autos, Busse, Wohnwagen, in fünf Reihen, hinter uns kein Ende mehr zu sehen. Die Fähre traf pünktlich ein und wir beobachteten die herausfahrenden Autos auf der anderen Seite des Zaunes. Es war nun fast unerträglich heiß, trotzdem war unsere Stimmung gut, wir lachten und fotografierten uns gegenseitig. It was exciting.
(Bei der akribischen Planung im Vorfeld war uns bei uns selbst einmal mehr dieser deutsche Perfektionismus aufgefallen. Daher wollten wir in diesem Urlaub lernen, loszulassen, zu genießen, einfach nicht so deutsch zu sein. Niemand wird überrascht sein, wenn ich schon an dieser Stelle anmerke, dass wir kläglich scheiterten. Aber in diesem aufregenden Moment in der "WAITING AREA" dachten wir doch tatsächlich, wir hätten uns schon verbessert, würden genießen können, was geschah, die Dinge nehmen, wie sie kamen, uns über das Positive freuen und das Negative ignorieren. Der Zustand hielt nicht lange an.)
Es dauerte nochmals anderthalb Stunden, bis das letzte Fahrzeug jenseits des Zaunes die Fähre verlassen hatte, dann ging es auf unserer Seite los. Erst durften die Wohnwagen, mit und ohne Anhänger, einfahren, dann die großen und kleinen Busse und zum Schluss die PKWs im Wechsel der Spuren. In Schrittgeschwindigkeit holperte unser Auto unter donnernden Geräuschen über die Laderampe nach oben. Es war, als würde uns dieses gewaltige Ding verschlucken. Plötzlich war es dunkel und ein Mann in einem blaugrauen ölverschmierten Overall stand vor unserem Auto, ruderte hektisch mit den Armen und zeigte nach rechts an die Wand! Genau vor einer Tür sollten wir parken? Die Frage nach seinen Kompetenzen stellte sich mir schon, nur war es gerade nicht die Zeit, das zu diskutieren. Der Vordermann legte den Rückwärtsgang ein. Peter auch. Alle hupten. Wieder einen Zentimeter vorwärts, noch näher an die Wand! Puh. Aussteigen war kaum möglich. Gedränge. Mit Taschen beladen drängelten alle Menschen an Peters neuem Auto vorbei zur Tür! – Da war es schon wieder, dieses Gefühl in mir, dieser Zwang, sich über unwichtige Kleinigkeiten zu echauffieren. Wie kann man sich nur Sorgen um ein Auto machen! Nein, wir hatten noch gar nichts dazugelernt.
Das Auslaufen der Fähre war sehr beeindruckend, wenn auch nicht gerade hübsch anzusehen mit den qualmenden Schloten der Fabrikschornsteine des Industriehafens als Kulisse. Die beste Sicht hatte man vom oberen Deck. Dort war es zwar höllisch windig, aber total aufregend. Die Geräusche der Motoren schwollen an zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Der Wind zerrte an meiner Kleidung und schien sich zu einem Sog zu entwickeln, der mich von Bord zu reißen drohte. Ich klammerte mich an der Reling fest und fing unvermittelt an zu lachen. In diesem Moment fühlte ich es das erste Mal: Die Bedrohung der Naturgewalten. Mein ganzer Körper bebte! Das Gefühl zu leben war nie stärker gewesen!
Kaum erreichte die Fähre die offene See, strömten alle Passagiere in den Speisesaal. Die berüchtigte Schlacht am Buffet begann – kalt oder heiß – für Peter ein Albtraum. Er brauchte nichts zu sagen, man sah es deutlich in seinem Gesicht: Leicht glasige Augen, kleine Pupillen, die schmalen Lippen pressten sich unter dem melierten Bart zusammen. Das Zweitschlimmste für Peter war übrigens hartes trockenes Fleisch, zu lange gegart oder schlechte Qualität. The roast beef on buffet was very very well done. Zu deutsch: Eine Schuhsohle wäre im Vergleich dazu eine Delikatesse gewesen. Er schüttelte den Kopf, sprach leise: „Es ist so unglaublich lieblos.“, und blieb nicht.
Wir trafen uns etwas später auf Deck, um den Sonnenuntergang zu erleben. Ich hatte schon drei Antispucktabletten und eine gegen Seekrankheit genommen, bewegte meine Muskulatur, indem ich alle vier Decks mehrmals hinauf und hinunter lief und suchte die beste Sicht auf den rot glühenden Abendhimmel. Das machte mir Spaß. Peter, immer noch schlecht gelaunt wegen des Essens, schimpfte träge, weil ich mich nicht für eine Stelle entscheiden konnte. Vermutlich hätte er etwas Aufmunterung gebrauchen können. Aber ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt und mit der Natur, dem vielen Wasser um uns herum, der Weite des Horizontes und der scheinbaren Nähe der untergehenden Sonne.
06. Nächste Station: Irland
Samstag, siebter August. Um acht Uhr gab es ein weiteres Desaster für Peter im Speisesaal mit dem Frühstücksbuffet. Wir trafen uns auf Deck wieder, wie schon am Vortag.
Feucht und salzverklebt von der Gischt, die uns mit jeder Welle erwischt hatte, ging ich hinein und machte mich auf die Suche nach einem Stück Papier. Ich hatte mich entschlossen, unsere Erlebnisse aufzuschreiben. In dem Shop auf der Fähre fand ich ein hübsches, gebundenes, goldfarbenes Notizbuch. Ich kaufte es und begann meine Tagebuchaufzeichnungen.
Um zwölf Uhr besuchten wir etwas widerwillig ein letztes Mal in den Speisesaal. Wir hatten eine lange Fahrt vor uns und wollten wenigstens irgendetwas im Magen haben.
Eine halbe Stunde später saßen wir auf dem Oberdeck, um die Einfahrt in den Hafen von Rosslare mitzuerleben. Die Durchsage, dass wir zu den Autos gehen sollten, kam für mich viel zu früh. Ich hätte gerne noch viel länger die irische Küste betrachtet, die sowohl durch das Fernglas als auch beim Näherkommen phantastisch aussah. Wir holten unsere Sachen aus der Kabine, Peter schimpfte, weil ich nochmal das Bad aufsuchte und stiegen fast als letzte in den Wagen, warteten dann aber doch noch fünfundzwanzig Minuten, bis es endlich losging. Die Menschen haben es immer zu eilig.
Ohne weitere Kontrolle fuhren wir in einer weit auseinandergezogenen Schlange durch den Hafen von Rosslare bis zur Hauptstraße, an der uns ein auffälliges Schild empfing: "DRIVE LEFT". Wir waren in Irland!
Von Beginn an bezauberten uns die sattgrünen Wiesen und die entzückenden kleinen gepflegten Häuschen. Und wo man auch hinsah, Schafe, überall Schafe. Sogar die Berge in einiger Entfernung waren gespickt mit kleinen weißen Punkten. Noch dazu empfing uns Irland mit seinem ungewöhnlichsten Wetter: Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel. Peter lachte über den Linksverkehr und tauchte ein in das unbefestigte, löchrige Straßennetz von County Wexford. In Irland gibt es zweiunddreißig Counties, Grafschaften, sie sind vergleichbar mit unseren