Tea hatte auf diesen Moment der Erkenntnis gewartet.
»Es ist das Jahr 1145», sagte sie nun, »und wir sind in der italienischen Stadt Vetralla. Lass uns mal weitergehen.«
Finn drängelte sich durch eine kleine Menschengruppe und stellt sich dann zu ein paar Kindern, die fröhlich in einer kleinen Pfütze spielten. Nur zwei von ihnen trugen weiche Lederschuhe ohne Sohlen, und die waren nicht nur dreckig, sondern auch schon kaputt. Bei dem einem Kind schaute fast der ganze große Zeh durch ein Loch hervor.
Plötzlich hielten die Kinder inne mit ihrem Spiel. Gespräche, von denen bis eben noch ein paar Fetzen zu Finn gedrungen waren, verstummten. Stattdessen ging ein leises Raunen durch die Menschenmenge. Finn reckte sich, konnte aber nicht erkennen, was da vorne los war. Er schob sich durch die Massen, bis er fast ganz vorne stand. Dann aber bewegte sich der ganze Pulk wieder weg, Finn wurde unweigerlich mitgeschoben. Vor dem östlichen Stadttor kamen alle wieder zum Stehen.
Dort hatte sich ein Mann in einer gewaltigen Robe aufgebaut, umringt von vielen anderen in ebenso pompösen Gewändern. Einige Kirchenmänner stellten sich vor ihm auf, um zu hören, was er verkünden wollte. Finn stand mit dem einfachen Volk weit hinten, sehen konnte er gar nichts. Tea stupste Finn an und zeigte auf einen Mauervorsprung. Gewandt kletterte Finn hinauf. Ah, nun hatte er einen kompletten Überblick über das Spektakel!
»Das ist übrigens Papst Eugen III«, erklärte Tea und zeigte auf den Mann mit der gewaltigen Robe.
Finn konnte nicht alles verstehen, was der Papst nun untermalt mit theatralischen Bewegungen seiner Arme von sich gab. Als er einen Satz mit ›das Leiden der Christen‹ aufhörte, jubelten die Zuhörer.
»Was hat er gesagt?«
»Das Leiden der Christen im Osten müsste beendet werden«, rief Tea laut in Finns Ohr.
Die Menschenmenge brauste erneut auf, ohne dass Finn wusste, warum.
»Die Heiligen Städte müssten befreit werden«, soufflierte Tea den nächsten Teil der Ansprache.
Immer wieder johlten die Anwesenden bei den Satzpausen des Papstes. Tea winkte jedoch nur ab. »Blabla«, machte sie mit den Lippen. Dann, kurze Zeit später, als Finn gerade begann, sich zu langweilen, zeigte sie nach vorne. Finn sah, wie sich einer der Kirchenmänner in den Staub kniete.
Plötzlich war alles still und er hörte deutlich den Mann sagen:
»Ich bitte ehrfürchtig um die Erlaubnis, den zweiten Kreuzzug führen zu dürfen.«
Der Papst nickte großzügig und die Menge jubelte. Viele schwenkten kämpferisch ihre Arme.
»Das ist ja wie im Theater«, rief Finn.
»Und damit hast du mehr Recht, als du glaubst. Der letzte Teil eben war nämlich einstudiert und kein spontaner Entschluss des Mannes.«
»Wozu das denn?«
»Damit auch die anderen von der Begeisterung angesteckt werden und auf Kreuzzug gehen wollen. Es hatte doch schon einen Kreuzzug gegeben, der erste Kreuzzug 1095, von dem ich vorhin erzählt hatte«, erklärte Tea. »Zu dem hatte Papst Urban II aufgerufen, nachdem Jerusalem eingenommen wurde. Papst Eugen III, den du hier siehst, will jetzt zum zweiten Kreuzzug aufrufen, weil nun Edessa belagert wurde. Edessa ist der erste von den Kreuzfahrern gegründete Staat. Papst Eugen hatte aber Probleme, Verbündete für seinen Kreuzzug zu finden. Erst als er König Konrad III aus Deutschland und den französischen König Ludwig VII zum Mitmachen gewinnen konnte, war es beschlossene Sache.«
Ein Reiter versuchte, sein Pferd durch die Menschen zu treiben. Es trippelte nervös von einem Huf auf den anderen und schnaubte panisch. Als die beiden direkt neben Finn an der Mauer standen, murmelte Tea ein paar Worte in das Pferdeohr. Sofort wurde es ruhig.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte der Reiter Finn begeistert.
»Äh, das war ich nicht, das war, äh, sie.«
Finn zeigte auf die Puppe auf seiner Schulter.
»Kannst du mir den Trick verraten?«, fragte der Reiter, ohne sich im geringsten zu wundern, dass er doch mit einer Puppe sprach.
»Tut mir leid, das ist einfach ein Talent, das ich habe«, bedauerte Tea.
»Schade, ich bin nämlich nicht sicher, ob ich mir ihr«, der Reiter nickte zu seiner braunen Stute, »auf Kreuzzug gehen will. Sie ist einfach zu schreckhaft.«
»Du willst auf Kreuzzug gehen?«, unterbrach Finn.
»Ja, natürlich!«
»Toll!« Vor ihm stand also ein echter, zukünftiger Kreuzritter! »Aber wird das nicht auch gefährlich?«, warf Finn ein.
»Natürlich, es ist ja schließlich ein Krieg, den wir führen. Aber, wie der Papst ja gerade sagte: Wer auf der Fahrt dorthin oder in der Schlacht gegen die Heiden sein Leben verliert, dem werden seine Sünden vergeben.«
»Was sind denn Heiden?«, fragte Finn.
»Ungläubige! Wer nicht an Gott glaubt, ist ein Heide!«
»Ach ja, die Seldschuken glauben ja nicht an Gott, stimmt.«
Finn war überrascht, wie leicht das Wort Seldschuken plötzlich über seine Lippen kam.
»Sie glauben an Allah«, warf Tea ein.
»Wer ist denn Allah?«
»Das ist der Gott der Muslime.«
»Es gibt nur einen Gott«, meldete sich der Reiter wieder, »unseren!«
»Vielleicht sind die beiden ja ein und derselbe?«, versuchte Finn einzulenken. »Dann wären die Seldschuken auch keine Ungläubigen mehr und du müsstest gar nicht auf Kreuzzug gehen.«
»Es gibt nur einen Gott!«, wiederholte der Reiter stur.
»Okay, okay!«
»Okay? Was heißt das?«
»In Ordnung«, übersetzte Finn. »Sag bloss, das kennst du nicht?«
»Nein, noch nie gehört.«
»Kannst du auch nicht, mach dir keine Sorgen«, beruhigte Tea den Reiter und murmelte vor sich hin: »Das Wort ist noch gar nicht erfunden.«
Um abzulenken, fragte Finn:
»Wie heißt du eigentlich?«
»Leopold. Und ihr?«
»Ich heiße Finn und das ist Tea.«
»Was für merkwürdige Namen.«
»In meiner Zei . . . « Finn biss sich auf die Zunge. »In meinem Heimatort«, verbesserte er sich dann schnell, »sind das ganz geläufige Namen.«
»Wo kommt ihr denn her?«
»Köln«, antwortete Tea diesmal.
Finns Ohren leuchteten schon rot genug, fand sie. Der Junge konnte ja wirklich nur ganz schlecht lügen!
»Ah, schöne Stadt! Da wollte ich auch immer mal hin. Aber wie es aussieht, werde ich mich wohl vorher Richtung Osten bewegen.«
»Wann geht es eigentlich los?«
»Das weiß ich gar nicht. Aber es wurde ja auch gerade eben erst angekündigt. Bis die Vorbereitungen abgeschlossen sind, werden noch ein paar Wochen oder Monate vergehen.«
»Ich wünsche dir viel Glück!«
»Danke, das werde ich gebrauchen können. Aber vielleicht sehen wir uns ja vorher noch.«
»Ja, wer weiß! Mach es gut,