Während des Essens erzählt Mama von ihrer Arbeit im Krankenhaus und ich höre ihr neugierig zu. Ich räume den Tisch ab und sie sagt, als sie ins Wohnzimmer geht: „Ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Was denn?“
„Hier.“ Sie holt eine Vase mit ein paar kleinen rosa Blumen hervor. „Ein Patient hat sie mir geschenkt und du kannst sie mehr gebrauchen als ich.“
Glücklich nehme ich ihr die Vase ab und drücke sie liebevoll. „Danke! Die sind echt schön.“ Sanft fahre ich über die rosa Blüten. „Das sind Bartnelken, solche habe ich noch nicht.“
„Dann kannst du ja von Glück reden, dass sie mir geschenkt wurden“, lacht Mama und setzt sich neben Papa auf die Couch, der gedankenverloren durch die Sender schaltet.
Ich trage erst die Blumen in mein Zimmer und hole dann meinen Violinenkoffer und meine Schultasche, um gleich noch Hausaufgaben machen zu können. Doch erst ziehe ich ein Buch aus dem Regal. Ich setze mich damit auf mein Bett und schneide die Köpfe der Blumen ab, um sie vorsichtig zwischen die Buchseiten zu legen, damit sie dort gepresst werden. Zufrieden stelle ich es wieder ins Regal.
Schon seit ich klein bin, presse ich Blumen und klebe sie dann in Bücher mit leeren Seite, um eine Art Album zu kreieren. Nur eben nicht mit Fotos, sondern mit Blumen. Ich habe mindesten schon zwanzig Stück davon und alle stehen in meinem Regal. Sie machen viel Arbeit, doch ich liebe es. Blumen sind, neben der Musik, meine große Leidenschaft. Meine Granny hat das damals mit mir gemacht, als ich klein war, und heute kann ich nicht mehr aufhören. Vor zwei Jahren ist sie gestorben, doch ich trage ihr Hobby weiter. Das verbindet mich irgendwie mit ihr.
Um Punkt zehn Uhr bin ich fertig mit meinen Hausaufgaben und gehe ins Bett, nachdem ich mir eine warme Dusche gegönnt habe. Die Abende sind meine tägliche Entspannung. Die Stunden von morgens bis abends um sieben sind mehr als anstrengend, weil ich diesen Stress nicht gewohnt bin.
Doch es muss sich auszahlen. Ich muss dieses Stipendium für die Musikhochschule in Birmingham einfach bekommen. Ich denke, dass ich es verdient hätte. Ich lerne wirklich hart, auch wenn es nicht immer klappt.
Kapitel 3
„Ich bin mehr als bereit für die Ferien“, stöhnt Olivia, meine beste Freundin und setzt sich neben mich in die U-Bahn. „Auch wenn ich die Matheprüfung versaut habe. Was soll’s? Wer braucht Mathe?“
„Na ja, du wirst es noch oft brauchen“, kichere ich und klemme mir meine Mappe enger an meine Brust.
„Quatsch. Wenn ich Sportlehrerin werde, brauche ich kein Mathe. Alles Quatsch.“
Kopfschüttelnd lache ich. Oli geht mit mir seit der sechsten Klasse auf die gleiche Schule und seitdem sind wir unzertrennlich. Sie ist zwar das genaue Gegenteil von mir und lebt eher ein rebellisches Leben, doch wir sind ein Herz und eine Seele. Umso trauriger ist es, dass wir uns die ganzen Weihnachtsferien nicht sehen werden, weil sie nach Australien zu ihrer Familie fliegen wird.
Heute ist Freitag und vor einer Stunde haben wir die letzte Prüfung hinter uns gebracht. Mathematik. Ich habe ein gutes Gefühl, genauso wie in Englisch, Französisch und Spanisch. Das viele Lernen hat sich definitiv ausgezahlt, somit kann ich beruhigt in die Ferien starten.
„Du tust mir echt leid, dass du die ganzen Ferien arbeiten musst“, sagt Oli und versteckt ihre schwarzen Haare unter einer Wollmütze.
Ich zucke nur mit den Schultern. „Das kannst du nicht arbeiten nennen. Das ist nun mal das Hotel meines Grandpas und ich denke nicht, dass Mama und Grandpa mich dort hart arbeiten lassen.“
„Aber du musst morgens früh aufstehen. Und das reicht schon. Ich verstehe sowieso nicht, wieso du diesen Mist machen musst. Ihr seid reich.“
„Hey, wir sind nicht reich“, erwidere ich. „Wir …“
„Ihr seid nur wohlhabend, schon gecheckt.“ Oli verdreht die Augen. Dann kommen wir an der Station an, an der sie aussteigen muss, und sie verabschiedet sich von mir mit einer Umarmung.
Ich beobachte durch das Fenster der Bahn, wie sie in einer Gasse verschwindet, und schon setzen wir uns in Bewegung. Eigentlich habe ich wirklich keine Lust, in den Ferien zu arbeiten, denn das bringt mich nur von meinen Proben ab und meiner Lust, auch mal zu Hause zu üben. Die ganze Woche war ich jeden Tag bei Misses Baskin und habe versucht, die Violinsonate zu spielen, doch es sei noch immer nicht gut genug, wie sie ständig sagte.
Gedanklich seufze ich.
Ich setze mir in den Kopf, mindestens die Violinsonate bis Silvester perfekt zu beherrschen. Als kleines Geschenk an mich selbst.
Mama möchte aber auch unbedingt, dass ich in den Ferien arbeite, damit ich mir auch mal mein eigenes Geld verdiene. Theoretisch ist es ja ihr Geld, denn sie wird mich bezahlen, doch ich soll verstehen, wie es ist zu arbeiten, denn bisher habe ich genug Taschengeld bekommen und musste mir nie um irgendetwas Gedanken machen. Eigentlich fand ich das gut, denn ich hatte genug Stress mit den ganzen Proben, doch anscheinend reicht das nicht aus. Es muss unbedingt dieses doofe Hotel sein.
Kurz bevor die Bahn an der Haltestation hält, an der ich raus muss, stehe ich schon vor der Tür und sehe heraus, während hinter mir ein altes Pärchen über das anstehende Mittagessen diskutiert. Die Türen öffnen sich und noch bevor ich den ersten Schritt nach draußen machen kann, werde ich unsanft von der Seite von einem schwarz gekleideten Jungen mit Kapuze angestupst, der an mir vorbei nach draußen stürmt. Meine Mappe fliegt auf die geteerte Straße und alle Blätter liegen auf dem Boden, was niemanden zu interessieren scheint, denn ich kann jetzt schon sehen, wie immer mehr Fußabdrücke auf den Zetteln entstehen. Leise fluchend und den vielen Leuten aus dem Weg gehend, knie ich mich auf den Boden, um die vielen Blätter einzusammeln. Das kann doch alles nicht wahr sein. Das sind all meine Notenblätter.
Misses Baskin wird mich umbringen!
Hektisch stopfe ich die Blätter in den Ordner, und als ich gerade nach dem letzten Zettel greifen will, wird er von dem Wind davongeweht. Na toll. Das wird ja immer besser.
Schnell stelle ich mich auf, schultere meine Tasche wieder richtig und gehe durch die vielen Leute hindurch dem Zettel hinterher, der seinen Weg immer weiter zu fliegen scheint. Wo kommt denn plötzlich dieser nervige Wind her?
Mit vielen Entschuldigungs und Sorrys quetsche ich mich durch die Leute, behalte das weiße Papier im Auge. Und genau auf einer Stelle, wo keine Leute stehen, bleibt es still liegen. Erleichtert jogge ich schnell hin und bücke mich danach. Ich mustere es. Risse, Dreck und ein fetter Fußabdruck.
Misses Baskin wird mich so was von umbringen.
Als ich mich gerade umdrehen will, um nach Hause zu laufen, werde ich plötzlich am Ärmel einen Meter zur Seite gezogen. Ich stolpere über meine eigenen Füße durch die plötzliche Geschwindigkeit und lande unsanft auf dem Bürgersteig. Meine Mappe fliegt ebenfalls wieder auf den Boden und alle Notenzettel sind erneut zerstreut.
Total verwirrt verstehe ich erst jetzt, dass ich mitten auf der Straße stand und ein Auto in Höchstgeschwindigkeit auf mich zukam. Wie konnte ich so unvorsichtig sein?
„Beschissene Idee, auf der Straße zu lernen“, höre ich eine tiefe, rauchige Stimme und erst jetzt sehe ich eine Person neben mir. Er ist schwarz gekleidet, hat eine Kapuze auf und dreht sich schon wieder von mir weg, noch bevor ich sein Gesicht sehen kann. Er scheint mich von der Straße gezogen zu haben.
Etwas überfordert sehe ich ihm hinterher, wie er davongeht, mit den Händen in den Jackentaschen. Ich kann ihn doch nicht einfach so weggehen lassen. Wenigstens danke schön sollte ich sagen, immerhin hat er mich vor einem Unfall gerettet. „Hey, Moment mal!“, rufe ich ihm schnell hinterher und sammle rasch die vielen Zettel ein, stopfe sie einfach unsauber in meine Mappe. Ich klemme sie mir unter meinen Arm und jogge ihm hinterher. Er ignoriert meinen Ruf, deswegen rufe ich noch mal: „Stop, warte kurz!“
Doch er läuft immer noch mit schnellen Schritten geradeaus. Er kann mich nur gehört haben, denn