Traurig spüre ich, wie sich erneut Tränen in meinen Augen ansammeln. Ich habe gerade mal die Hälfte des Schultages hinter mir und fast die ganze Zeit damit verbracht zu weinen. Nur wegen Jimmy. Er tut mir immer wieder weh, das macht mich noch sensibler.
Unmädchenhaft ziehe ich die Nase hoch und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Nathan zu mir sieht. Er greift in seine Hosentasche und schmeißt mir etwas vor die Füße.
Verwundert betrachte ich das kleine Plastikpäckchen vor mir und stelle schnell fest, dass es Taschentücher sind. Verwirrt sehe ich zu ihm.
„Wisch dir damit die Tränen weg“, sagt er und sieht wieder resigniert nach vorne.
Eins seiner Taschentücher. Zwar hat er schon ab und zu mit mir geredet, doch es waren nie nette Sachen. Sonst sagt er immer nur, dass ich ihn nerve und doch verschwinden solle. Doch heute? Er schenkt mir seine Taschentücher. Ich bücke mich dankbar nach den Päckchen und ziehe ein weißes Tuch hervor. „Danke“, weine ich leise und wische mir damit vorsichtig die Nässe von den Wangen. Ich beuge mich zu seiner Bank rüber und lege die Packung ganz an den Rand, weil ich weiß, dass er es nicht mag, wenn ich ihm zu nahe komme. „Das ist lieb von dir.“
Er lässt die Packung da liegen und sieht weiter geradeaus. „Ich wollte nicht lieb sein, es sieht einfach nur bescheuert aus, wenn du ständig heulst.“
Ich schürze die Lippen und sehe auf meine Finger. „Oh“, mache ich traurig und kneife mir unbewusst in meinen Handballen. „Ich kann nichts dafür …“
„Wofür?“
„Dass ich ständig weinen muss.“
„Doch, kannst du. Tu es einfach nicht. Es nervt.“
„Tut mir leid“, sage ich leise und stehe wieder kurz davor zu weinen, doch ich halte die Luft an, weil ich Nathan nicht weiter nerven möchte. Mit gebrochener Stimme füge ich noch hinzu: „Ich wollte dich nicht nerven.“ Und rutsche auf der Bank weiter von ihm weg.
Er beugt sich zu der Packung Taschentücher und wirft sie mir wieder zu, sodass sie direkt in meinen Schoß fällt. Dann steht er auf. Als ich ihn fragend ansehe, meint er monoton: „Behalte sie. Du heulst ja schon wieder, das hält keiner aus.“
Meine Unterlippe beginnt wieder zu zittern und ich kann ihm nicht mal ins Gesicht sehen. „Sei nicht so gemein“, flüstere ich.
„Wieso?“
Was eine seltsame Frage. Weil es mich verletzt. „Weil ich immer nett zu dir bin“, erkläre ich.
„Ich will aber nicht, dass du nett zu mir bist“, murrt er böse. „Ich habe dir schon oft gesagt, dass du mich einfach nervst und ich dich nicht mag.“
Eine Träne fließt wieder meine Wange herunter, tropft auf mein Kleid.
„Du nervst und ich mag dich nicht“, wiederholt er. „Bekomm das endlich in deinen blöden Schädel.“
Ich sehe verweint auf und erkenne, dass in seinem Blick noch immer keine direkte Emotion zu erkennen ist. Er sieht noch genauso gleichgültig aus wie vorhin, als Misses Hatheway ihn aus dem Unterricht gezogen hat. Wie kann er nur solche verletzenden Worte sagen, ohne auch nur etwas dabei zu fühlen? Er sieht nicht mal wütend aus.
„Ich wollte doch nur mit dir befreundet sein“, weine ich niedergeschlagen.
„Ich will aber nicht mit dir befreundet sein. Vor allem nicht, wenn du ständig heulst.“
Er will noch etwas dazu sagen, doch eine erwachsene Stimme ertönt über den Schulhof. „Nathan!“ Mister McErming stampft aufgebracht zu ihm und zieht Nathan am Ohr, sodass er sein Gesicht verzieht. „Du hast heute schon genug angestellt, glaubst du nicht, dass du langsam genug Mädchen verletzt hast?“
Ich würde Mister McErming gerne widersprechen, doch ich kann es nicht. Einerseits, weil der Kloß in meinem Hals zu groß ist, und andererseits, weil Nathan mich wirklich verletzt hat. Zwar nicht mehr als sonst, aber gemeinsam mit der kaputten Schleife in meiner Hand tut es noch mehr weh.
„Wir werden jetzt sofort deine Eltern anrufen, diesmal sage ich dem Rektor, er soll keine Ausnahme machen“, wütet der Lehrer und zieht fester an Nathans Ohr, sodass er schon auf die Zehenspitzen muss. Mister McErming sieht zu mir. „Ist alles in Ordnung, Honor? Wo ist Maria?“
„Ich bin hier“, sagt Maria, die gerade zu mir auf die Bank kommt und sofort wieder tröstend eine Hand auf meinen Rücken legt.
„Okay, gut.“ Noch einmal zieht er an Nathans Ohr. „Und jetzt kümmern wir uns um dich, Freundchen.“ Er zieht Nathan mit sich über den Schulhof, der ihm mit schnellen Schritten fast joggend und mit schmerzverzogenem Gesicht folgt.
Ich sehe ihnen hinterher, ignoriere Maria, die mich fragt, was passiert sei. Nathan dreht sich etwas in meine Richtung und sieht zu mir. Jetzt erkenne ich etwas in seinem Gesicht. Verachtung. Mir dreht sich der Magen um. Wieso zeigt er jetzt eine Emotion, aber vorher nie?
Mister McErming und Nathan verschwinden hinter der Tür des Sekretariats.
Seit diesem Tag kommt Nathan nie wieder in die Schule.
Kapitel 2
„Stop, stop, stop, stop, stop!“, ruft meine Violinlehrerin aus und hält sich entsetzt die Ohren zu.
Sofort nehme ich den Bogen von den Saiten und lasse die dunkelbraune Violine seufzend sinken.
„Das war grauenvoll, Honor.“ Misses Baskin schüttelt, sich die Brille von der Nase nehmend, mit dem Kopf. „Johann Sebastian Bach hat sich diese Violinsonate bestimmt nicht ausgedacht, damit du es mit deinen ständig davonschweifenden Gedanken falsch spielen kannst.“
„Tut mir leid“, sage ich kleinlaut. „Ich bin sehr unkonzentriert heute.“
Sie seufzt und streicht sich eine graue Strähne hinters Ohr. „Das mag sein, aber bald hast du das Vorspiel und du kannst es dir nicht erlauben, dich dort zu verspielen. Also noch mal, a-Moll.“
Tief durchatmend halte ich mir wieder die Violine ans Kinn und sehe auf den Notenzettel vor mir. Ich setze den Bogen an und spiele die ersten beiden Töne.
„Okay, stop!“, unterbricht Misses Baskin wieder das Stück. Ich lasse die Violine hängen und sie sieht mich streng an. „Honor-Marie. Das ist jetzt heute dein siebter Versuch und nicht mal die ersten zwei Töne triffst du. Was geht denn in deinem Köpfchen vor?“
Ich lasse mich erschöpft auf einen Hocker fallen und lege die Violine auf den Flügel neben uns. „Ich habe so Angst vor dem Vorspiel. Ich bekomme das Stück doch nie in den zwei Monaten hin … Es ist viel zu schwer für mich.“
„Das Stück ist vielleicht nicht das einfachste, ja, aber du willst die Jury doch von dir überzeugen, nicht wahr? Du musst dich konzentrieren. Und hör auf zu behaupten, dass du das nicht packen würdest. Rede dir das gar nicht erst ein, das machen nur Verlierer. Du bist kein Verlierer.“
„Dann würde ich es ja hinbekommen. Stattdessen verspiele ich mich immer und immer wieder.“
„Vielleicht sollten wir die Violine erst mal beiseitelegen.“ Misses Baskin steht auf und stellt sich an den Flügel. „Lass uns mit dem Flügel weitermachen. Eventuell brauchst du einfach mal Abwechslung. Komm, hopp, hopp.“
Ich stehe auf und verstaue meine Violine in meinem Violinenkoffer, auf dem Musafia eingestickt ist. Meine Mutter legt viel Wert auf gute Qualität meiner Musikausrüstung. Sie kauft keine Utensilien unter zweitausend Pfund, weswegen wir Stammkunden bei Musafia sind. Umso sorgsamer muss ich mit dem Koffer umgehen, deswegen schließe ich ihn vorsichtig. Ich setze mich an den Flügel und lege meine Notenblätter zurecht, um das vorgegebene Stück zu spielen.
„Okay, jetzt volle Konzentration“, befiehlt Misses Baskin