Immer weiter zogen sich die Schneewolken vom Himmel zurück. Die Sterne blitzten wie die stahlblauen Augen eines grandiosen Westernhelden. Über die verschneiten Felder oberhalb von St. Michael lief ein Rudel Rehe. Sie liefen auf den leicht ansteigenden Feldern dem Wald zu, in jene Richtung, in der auch die Autobahn lag, die Chemnitz und Zwickau verband. „Karl-Marx-Stadt“, hechelte Herr Neubert. Chemnitz hieß schon lange nicht mehr so, und bei klarem Bewusstsein hätte es Herr Neubert auch niemals mehr so genannt. Schließlich wollte er sich nicht nachsagen lassen, er hinge alten Idealen nach.
Dietmar Neubert ließ sich am Steuer seines TOYOTA nieder und starrte einige Sekunden hinaus auf die verschneite Hauptstraße. Sie lag vor ihm wie eine entrollte Binde, so weiß, dass sie steril wirkte.
Herr Neubert begann seine Fahrt in den Tod genau um 5.12 Uhr. Er ließ den Motor an, gab Gas und entfernte sich in Richtung Neustadt, das er jedoch niemals erreichte.
Herr Neuberts zuerst recht ruhige und den Witterungsverhältnissen angepasste Fahrweise wurde bereits kurz nach dem Ortsausgangsschild von St. Michael gestört. Plötzlich lenkte der ansonsten sehr sichere Fahrer seinen Wagen in Schlängellinien über die Straße, so dass ein zufälliger Beobachter geglaubt hätte, der Fahrer dieses Wagens wäre völlig betrunken. Andererseits hätte dieser Beobachter auch bemerken müssen, dass die Schlängelfahrt für einen Betrunkenen zu sicher und gleichmäßig ausfiel. Man konnte an einen Stuntman denken, der eine schwierige Übung durchführt, um seine Fahrkunst zu trainieren.
Einmal, auf einem längeren, gerade ansteigenden Streckenabschnitt, gab Herr Neubert plötzlich Gas und bremste kurz vor Erreichen der Hügelkuppe abrupt ab, als habe sich direkt hinter dem Hügel plötzlich ein unerwartetes Hindernis gezeigt. Danach normalisierte sich sein Fahrstil für einige Minuten wieder, ehe er erneut begann, den Wagen mal nach links, mal nach rechts ausscheren zu lassen.
Zu dieser Zeit passierte Herr Neubert ein heller GOLF, der in Richtung St. Michael unterwegs war, und dessen Fahrer fassungslos sah, in welcher Weise ihm da ein anderer Wagen entgegen kam. Der Fahrer des GOLFs gab Lichthupe, reduzierte die eigene Geschwindigkeit und lenkte sein Fahrzeug so dicht wie möglich an den Straßenrand. Als der mit hoher Geschwindigkeit über den Asphalt schlingernde Wagen von Herrn Neubert ihn passierte, glaubte der GOLF-Fahrer im ersten Moment zu träumen. Der Fahrer des Zickzack fahrenden Autos hatte mit der linken Hand sein Lenkrad umklammert und gestikulierte mit der Rechten wild in Richtung des Beifahrersitzes. Später wurde im Protokoll aufgenommen, es habe ausgesehen, als kämpfe Herr Neubert mit einem unsichtbaren Gegner auf dem Beifahrersitz.
Als der Wagen Herrn Neuberts den GOLF passiert hatte, geriet er in einer scharfen Rechtskurve völlig außer Kontrolle, kam nach links von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Der Wagen fing sofort nach dem Aufprall Feuer und explodierte kurze Zeit später. Eine gewaltige Stichflamme schnellte in den kalten Morgen und erleuchtete die Szene der Katastrophe. Der Feuerschein wurde in St. Michael durch eine Frau Wagner bemerkt, die sich auf den Weg nach Thurm machen wollte, wo ihre Schwester wohnte.
Das, was von Herrn Neubert noch geborgen werden konnte, war keineswegs ein erfreulicher Anblick und sollte knappe drei Wochen nach diesem verhängnisvollen Unfall auf dem Friedhof von St. Michael beigesetzt werden. Aus verständlichen Gründen wurde der Sarg verschlossen aufgebahrt. Der völlig verbrannte Körper von Herrn Neubert war gewiss nicht das, was seine Verwandten und die wenigen Freunde sehen wollten, wenn sie ihm die letzte Ehre erwiesen.
Um den Platz für Herrn Neuberts letzte Ruhe zu bereiten, plagte sich Eberhardt Göttig an einem kalten Februartag auf dem ansonsten menschenleeren Friedhof von St. Michael damit, aus der steinharten Erde eine passende Grube auszuheben. Als er seine Arbeit bereits beinahe beendet hatte, ging ihm durch den Kopf, dass es schon seltsam war, dass sowohl Elvira Binder als auch Dietmar Neubert am Tage vor der Neumondnacht eines nicht gerade natürlichen Todes gestorben waren. Aber er wischte den Gedanken heftig beiseite. So etwas war in seinen Augen dummes Geschwätz, das für alte Weiber taugte, nicht aber für einen gesunden, klar denkenden Mann. Außerdem, Wunder, gute und böse, geschehen zu Vollmond, nicht zu Neumond.
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