Vielleicht hatte Katrin Weiß eine viel schönere Seele, als ihr Gesicht auswies, aber den Menschen konnte sie diese mit Sicherheit nicht entgegenbringen, denn man mied sie, als hafte ein Pesthauch an ihr. Die Leute im Dorf behandelten sie wie eine Hexe. Das einzige Wesen, das ihr wahrlich Liebe entgegenbrachte, war Max. Er war ein prachtvoller Schäferhund, stämmig, aber gut durchtrainiert. Seine Muskeln zeigten Kraft und Lebensfreude. Sein Gebell erscholl selten, doch wenn, so war es energisch genug, andere Hunde im Umkreis zum Verstummen zu bringen. Dieser Max liebte Katrin und vielleicht hatte nur darum auch noch nie jemand wirklich eine Gemeinheit ihr gegenüber begangen. Frau Binder fragte sich, ob Max vielleicht auch Katrins Jungfernschaft geraubt hatte. Wenn überhaupt, war Max der Einzige, von dem sich Frau Binder vorstellen konnte, dass er Katrin Weiß gevögelt hatte. Bei dieser Überlegung musste Frau Binder schallend lachen. Sie stellte sich vor, wie es Max mit einem gigantischen Fisch trieb, der seine Schwanzflosse in wilder Ekstase hin und her warf. Ihr erschien es eine irrsinnig komische Vorstellung zu sein. Dann plötzlich fiel ihr Theo ein und das Lachen versiegte in ihrer Kehle.
Schließlich wandte sie ihre Gedanken der dritten Mietpartei im Hause zu. Das war die Familie Seele. Die konnte sie wohl schlecht vor die Tür setzen, denn es war eine Familie mit drei Kindern. Natürlich waren drei Kinder eine lästige Lärmquelle im Haus, aber ihre Popularität im Ort würde gewiss darunter leiden, wenn sie versuchte, die Seeles vor die Tür zu setzen. Das würde zweifelsohne schlechte Auswirkungen auf das Geschäft ihrer Tochter haben. Darauf konnte und wollte sie sich auf keinen Fall einlassen.
Frau Binder befestigte vorsichtig ihre Ohrringe mit den Granatsteinen und blickte in den Spiegel. Sie sah mit Sechsundvierzig noch sehr ansehnlich aus. Ihre Gesichtshaut war durch intensive Pflege straff und frei von Altersflecken. Die Augen glänzten noch immer hellblau. Das Klimakterium hinterließ weder Spuren an ihrem Körper noch auf ihrer Seele. Sie wusste, dass sie unter den neuen Verhältnissen noch einmal alle Chancen auf eine zweite Blütezeit ihres Lebens hatte. Sie musste es nur richtig anpacken.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf griff Elvira Binder nach einem ihrer Parfumflakons, von denen wenigstens acht vor ihr auf der Kommode standen. Sie wollte nur noch rasch einen Blick in den Spiegel werfen, ehe sie das feine Duftwasser auftrug. Damit begann ihre ganz persönliche Katastrophe.
Vor Elvira Binders Augen verschwamm das sie umgebende Zimmer. Alles wurde unscharf wie ein mit falscher Brennweite aufgenommenes Foto. Nur ihr eigenes Spiegelbild hob sich scharf und kontrastreich von der Umgebung ab. Dieses Bild schlingerte. Es war, als sähe sie sich gar nicht in einem Spiegel sondern in einer Wasserfläche, in die ein Kind Steine warf. Sie sah ihr Gesicht auseinanderfließen und sich wieder zusammenfinden. Aber war das noch länger ihr Gesicht, das Gesicht, an dessen beinahe noch makelloser Schönheit sich gerade erfreut hatte.
Elvira Binders Augen weiteten sich. Ein Schreckensschrei fuhr aus ihr heraus.
„Nein ... Neiiin!“, schrie sie.
Risse bildeten sich auf dem Gesicht, das dort im Spiegel zu sehen war. Es schien, als öffneten sich Spalten in vertrocknetem Erdreich. Wasser quoll aus diesen Spalten. Dann wurde dieses Wasser rot. Es war Blut. Blut lief aus allen Poren über das Gesicht im Spiegel, das doch Elvira Binders Gesicht war. Das Blut sammelte sich und tropfte von ihrem Kinn.
Die Lippen zogen sich zu einem hämischen Grinsen zurück, gaben den Blick frei auf eine Reihe verfaulter, schwarzer Zähne. Die Zähne wurden aus dem Mund, der sich leicht öffnete, als wolle das Spiegelbild etwas sagen, herausgeschleudert. Sie prasselten scheinbar von innen her an den Spiegel. Es hörte sich an wie Hagel auf dem Fensterbrett.
Der Mund des Monsters im Spiegel schloss sich wieder. Das Gesicht verlor mehr und mehr seine ursprüngliche Gestalt, doch noch immer war deutlich zu erkennen, dass es einmal Elvira Binder gehört hatte. Frau Binder wagte nicht, ihr Gesicht zu betasten, um zu fühlen, ob Wirklichkeit war, was sie dort im Spiegel sah.
Große Beulen blühten auf Stirn und Wangen auf, platzten wie zu stark aufgeblasene Ballons und schütteten Eiter über das Gesicht aus. Die gelblichen und die roten Fließe in dem Spiegelbild vereinigten sich und tropften unablässig am Kinn ab.
Das Spiegelbild begann zu lachen. Es war ein böses, ein hämisches Lachen, das einer Märchenhexe gehören mochte. Elvira Binder ertrug nicht länger, was sie sah und hörte. Wieder entrang sich ihr ein verzweifeltes “Nein!“ Dann schleuderte sie den Parfumflakon, den sie die ganze Zeit umkrampft gehalten hatte, in den Spiegel hinein. Es klirrte laut. Scherben fielen nach vorn auf die Frisierkommode und nach hinten auf den Boden. Der Flakon hatte den Spiegel ohne Schaden zu nehmen durchschlagen. Er schlug gegen die Wand, zerbarst dort und streute Scherben und Parfum in alle Richtungen. Ein wegspritzender Scherben verfehlte Elvira Binders Augen nur knapp. Aber es hätte Frau Binder wohl auch nicht gerührt, wenn dieser Scherben getroffen hätte. Sie war wie im LSD-Rausch.
Langsam, fast als genieße sie den Augenblick, griff Frau Binder nach einem großen Spiegelscherben, der auf der Frisierkommode lag. Bedächtig hob sie ihn auf. Sie wollte sich offenbar nicht die Finger verletzen. Dann schnitt sie mit dem Scherben die Pulsader des linken Unterarmes auf. Sie tat es nicht, wie viele es tun, die nur einen Selbstmordversuch vortäuschen wollen, aber Wert legen auf eine Chance gerettet zu werden, also quer zum Arm. Natürlich ist auch in diesem Fall die Möglichkeit gegeben, dass man zu spät gefunden wird und der Blutverlust tödlich ist, aber die Sache ist unsicher. Frau Binder schnitt die Pulsader in Flussrichtung des Blutes über drei Zentimeter auf. Blut schoss aus der sich öffnenden Wunde wie eine Fontäne. Es spritzte ihr ins Gesicht, besudelte die Frisierkommode und den Fußboden.
Frau Binder sah das Ergebnis ihrer Tat und lächelte beseligt wie ein satter Säugling. Sie nahm den Spiegelscherben in die linke Hand. Dann öffnete sie auch die Pulsader an ihrem rechten Arm. Als sie ihr Werk der Selbstvernichtung erledigt hatte, erhob sie sich von ihrem Platz und wankte in Richtung Schlafzimmertür. Blut spritzte nun in alle Richtungen. Es landete auf dem blütenweißen Damastbettbezug, an der teuren Strukturtapete und auf den Möbeln aus massivem Holz. Die Binders waren wirklich nicht arm gewesen. Nur im Herzen.
Immer mehr Blut floss aus den Wunden aus. Frau Binder begann zu wanken. Mit letzter Kraft gelang es ihr noch, die Tür zum Korridor zu öffnen, dann kippte sie wie ein gefällter Baum nach vorn und blieb liegen.
So fand sie etwa fünfzehn Minuten später Herr Binder. Er war in den Korridor getreten, hatte seine Handschuhe auf die Garderobe gelegt, die Stiefel ausgezogen und den schweren Arbeitsmantel an einen Haken gehängt. Danach wandte er sich um und sah die Gestalt im Korridor liegen. Der Oberkörper lag bäuchlings dort, während sich der Teil von den Hüften abwärts noch im Schlafzimmer befand. Im Korridor war verhältnismäßig wenig Blut verspritzt, auch lag er mehr in einem trüben Dämmerlicht, und so sah Herr Binder nicht sofort, was wirklich vorgefallen war. Er nahm an, seine Frau sei aus einem ihm unklaren Grund ohnmächtig geworden. Herr Binder lief mit großen Schritten zu seiner Frau. Er drehte sie auf den Rücken, und nun erkannte er, was wirklich geschehen war.
„Elvira!“, schrie er die Leiche in seinen Armen an. „Warum hast du das getan? Habe ich nicht immer alles gemacht, was du nur wolltest?“
Er schüttelte die Tote wie ein ungezogenes Kind. „Warum? Warum hast du so etwas getan? Antworte mir, Elvira.“
Tränen rannen über seine Wangen und tropften auf das blasse Gesicht der Verstorbenen. Der Blutstrom, der aus beiden Pulsadern noch austrat, war nur noch ein spärliches Rinnsal. Das Herz hatte seine Tätigkeit als Pumpstation bereits eingestellt, der Blutdruck war damit auf null zurückgegangen. Herr Binder warf sich in wilder Verzweiflung über die Tote und umarmte sie, als könne er sie mit seiner Lebenskraft von neuem erwecken. Trauer überflutete seinen Verstand. Er blickte mit tränenverschleiertem Blick in das blutbesudelte Schlafzimmer. Dort erblickte er den zertrümmerten Spiegel, sah die Scherben, die überall herumlagen, und wusste, wie es geschehen war. Sekundenlang starrte er mit hypnotisiertem Blick auf das Bild im Schlafzimmer und sah dabei den Suizid seiner Frau wie in einem Film vor sich ablaufen. Als er sah, wie sie den Spiegelscherben zum ersten Mal ansetzte,