Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches. Norbert Wibben. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Wibben
Издательство: Bookwire
Серия: Anna Q
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750222021
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jetzt besser beeilen, wenn wir noch rechtzeitig im Speisesaal ankommen wollen.« Den erreichen sie, als gleichzeitig der Gong zum dritten Mal erklingt.

      Nach den Schachübungen verlassen die Teammitglieder die Bibliothek. Als Morwenna mit Robin und Anna allein ist, schließt sie den Leseraum ab und verlässt mit ihnen das Internatsgebäude. Sie folgen den verschlungenen Wegen durch den Park, bis sie im hinteren Bereich vor dem Haus des Schulleiters stehen. Aus den seitlichen, kleinen Fenstern, dort wo sich die Wohnstube befindet, dringt gelblicher Lichtschein nach draußen. Die Professorin betätigt am Eingang den Türklopfer. Es dauert nicht lange, dann sind erst Geräusche und danach eine Stimme von innen zu hören.

      »Was gibt es zu so später Stunde? Wenn es kein Notfall ist, hat es bestimmt Zeit bis morgen!« Die Stimme klingt nicht unfreundlich, die Tür wird aber nicht geöffnet. Wie bei den bisherigen Besuchen kann Anna die verschiedenen Nachtgeräusche plötzlich deutlicher vernehmen. Das Schuhu einer Eule erklingt nah und in der Ferne ein raues Krächzen. Sollte das Ainoa sein? Das Mädchen zieht die Augenbrauen hoch. Ist das ein übliches Begrüßungsszenario an der Tür dieses Hauses, das vielleicht durch irgendeinen Zauber des Professors aufgerufen wird?

      »Iain, hier ist Morwenna Mulham. Bei mir befinden sich die Schüler Anna und Robin. Es ist kein Notfall, der uns herführt. Aber wir sollten Anna die Ergebnisse von unseren Recherchen mitteilen. Sie hat ein Recht darauf. Bitte öffne.« Erneut vergeht eine kleine Ewigkeit, dann rasselt ein Schlüssel und die Tür öffnet sich langsam. Ein greller Lichtschein fällt nach draußen und umhüllt die späten Besucher. Er stammt von einer Lichtkugel, die in Höhe der Hand des Professors schwebt, so dass sie leicht für eine starke Taschenlampe gehalten werden kann. Als Iain Raven sie gemustert und sich von der Wahrheit von Morwennas Äußerung überzeugt hat, schwächt er das helle Licht. Robin vermag seinen Blick nicht von der seltsamen Lichtquelle zu wenden, obwohl Anna ihm von Lichtkugeln berichtet hat. Etwas hören oder sehen, macht offenbar einen gewaltigen Unterschied.

      »Warum kommt ihr zu so später Stunde und was hat der Junge hier zu suchen?« Die langen, weißen Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab. Es wirkt so, als ob er sie sich gerade gerauft hätte.

      »Ich habe Robin ALLES erzählt, Professor. Sie rieten mir zwar …«

      »… das nicht zu tun, und das hat einen guten Grund!«, unterbricht Iain Raven sie. Unter den buschigen Augenbrauen sind seine Augen forschend auf das Mädchen gerichtet. Zuerst ist sein Blick ungläubig und auch ein wenig ärgerlich, weil es entgegen der Anordnung gehandelt hat. Dann glättet sich sein faltiges Gesicht und ein feines Lächeln erscheint. »Hm, ich sehe schon, auch du hattest einen guten Grund. Also kommt bitte herein! Wir sollten nicht im Freien und bei dunkler Nacht über diese Dinge reden.« Mit einladender Geste öffnet er die Tür und schließt sie, sobald sie eingetreten sind. Er eilt an ihnen vorbei und lässt den gerunzelten Blick durch seine Wohnstube streichen. »Wo sollen wir uns nur setzen? Ich habe zu so später Stunde mit keinem Besuch gerechnet«, murmelt er vor sich hin, während er beginnt, einige Bücherstapel vom Sofa auf den Boden zu stellen. Sein Blick wandert erneut umher. »Reicht das bereits? Nein. Der Stuhl dort muss auch freigemacht werden. Der Junge, wie heißt er noch …? Jedenfalls braucht er auch einen Platz.« Iain Raven vermittelt den Eindruck eines verwirrten Professors, was aber keinesfalls stimmt. Die vielen Bücher und Papiere sind in einem bestimmten System geordnet, das er durch den Platzbedarf für seine Besucher durcheinanderbringen muss. Während er vor sich hinmurmelt, versucht er gleichzeitig, sich die geänderte Position der verschiedenen Stapel einzuprägen. Ein letzter prüfender Blick, dann ist er zufrieden. »Bitte setzt euch, aber seid vorsichtig, damit ihr keinen Bücherstapel umwerft.«

      Das passiert Robin beinahe, der immer noch von der Lichtkugel fasziniert ist. Die ist mittlerweile zur Zimmerdecke hinaufgeschwebt und leuchtet von dort in einem warmen, leicht gelblichen Schein auf sie herab. Mit dem Blick zur Decke gerichtet, stößt er gegen einen Bücherturm aus besonders dicken und alten Wälzern. Zum Glück reagiert er schnell und verhindert, dass der Stapel umkippt. Vor dessen Folgen graut es Iain Raven. Weitere Türme wären unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Das dadurch verursachte Durcheinander der Bücher und Papiere würde eine wochenlange Neusortierung erfordern.

      Noch bevor der Schulleiter reagieren kann, ruft Robin: »Verzeihung! Ich … war etwas abgelenkt.« Erst als alle sitzen, atmet der Professor erleichtert auf.

      »Darf ich euch etwas anbieten? Einen heißen Kakao vielleicht? Danach lässt es sich wunderbar schlafen!« Er nimmt die Zustimmung offenbar als gegeben hin, denn er erhebt sich gleich wieder und eilt geschäftig in den Nachbarraum. Robin schaut Anna erstaunt an. Sein Blick scheint zu fragen, ob sich der Schulleiter bei ihren Besuchen auch derart verhalten hat. Bevor sie etwas zu erwidern vermag, äußert sich Morwenna.

      »Iain lebt für seine Recherchen, die sich oft auf historische Ereignisse beziehen. Das ist nicht weiter verwunderlich, da er Geschichte in den höheren Jahrgängen lehrt. Er tauscht sich darüber oft mit Professoren berühmter Universitäten aus. Das hat er in den letzten Jahren etwas vernachlässigt, weshalb er kaum noch Besuch von außerhalb bekommt. Die Ursache liegt in seinen Forschungen zur Anderswelt, über die er nicht mit anderen spricht. Ich bin bisher eine Ausnahme, obwohl ich lediglich einmal als junges Mädchen dort gewesen bin. Seit einigen Wochen redet er auch immer wieder mit Anna, besonders deshalb, weil das Rätsel um Seid Greif gelöst werden muss.«

      »Ich befürchte, dass eine große Gefahr von diesem Mann ausgeht!« Das Hereinkommen des Professors haben sie überhört. Ob seine eindringlichen Worte sie deshalb erschauern lassen, ist nicht klar. Ihre Blicke richten sich auf ihn, der auf einem Tablett vier dampfende, große Tassen trägt. Er reicht jedem eine davon, die angenehm nach heißer Schokolade und etwas Zimt duftet. »Aber jetzt trinken wir erst einmal von diesem wunderbaren Getränk. – Habe ich euch schon verraten, dass ich ein Geheimrezept dafür nutze? Hm, möglicherweise habe ich das. – Sobald sich dessen Wärme wohltuend in unseren Körpern ausbreitet, werden Morwenna und ich euch mitteilen, was wir bisher erfahren haben.«

      Anna fühlt sich unbehaglich. Woher kommt nur das Gefühl, die Situation bereits einmal erlebt zu haben? Ihr Kopf ruckt nach oben. Was war das soeben für ein Schrei? Sie sucht den Himmel ab. Dort ist nichts Ungewöhnliches zu entdecken! Doch halt! In der Ferne ist knapp oberhalb des Horizonts, in dem leicht bläulichen Morgendunst ein kleiner Punkt wahrzunehmen! Verändert er seine Größe, bewegt er sich, oder warum zieht er ihre Aufmerksamkeit auf sich? Nach mehreren Augenblicken ist sie überzeugt, dass er langsam größer wird. Mit dieser erschreckenden Erkenntnis schafft sie es endlich, ihren Blick von dort in die nähere Umgebung zu richten. Hastig hält sie Ausschau nach einem Versteck, ohne eine Ahnung zu haben, wo sie in der unwirtlichen Gegend dieses Berggipfels einen nur annähernd dafür geeigneten Platz finden soll. Anna schaut zu dem dunklen Höhleneingang, aus dem sie vorhin herausgetreten ist, als ein erster, schriller Schrei in ihr Bewusstsein dringt. Könnte sie darin sicher sein? Falls sich ihre Vermutung bestätigt, dass ein Eisdrache hierher unterwegs ist, versucht sie ihr Heil besser in einer schnellen Flucht. Sie muss einen möglichst großen Abstand zu diesem Ort schaffen, bevor das Untier ihn erreicht hat. Dessen Vermögen, geringe Spuren von Wärme wahrzunehmen und so Opfern zu folgen, ist etwas, was Annas Unruhe steigert.

      Ihr Blick richtet sich auf einen verzierten Elfenbogen und den Köcher mit Pfeilen, die sie mit einer Hand umklammert hält. Einen Moment überlegt sie, ob sie aus der vermeintlichen Sicherheit der Höhle einen gezielten Schuss auf die Unterseite des Drachen abgeben sollte. Ihre linke Hand beginnt unbewusst einen gefiederten Schaft herauszuziehen, um ihn auf die Sehne zu legen, als ein neuer Schrei zu ihr herüberweht.

      Sofort kneift das Mädchen die Augen zusammen. Die Sonne ist im Osten hinter weiteren Bergkuppen erschienen, wo soeben noch der größer werdende Punkt zu sehen war. Die grellen Strahlen blenden. Sollte von dort ein gefährlicher Drache herannahen? Annas Blick schweift hastig über die schroffe Landschaft. Sie hofft weiter auf den Hinweis für ein geeignetes Versteck. Große Bäume gibt es hier nicht, lediglich verkümmerte Exemplare, die weiter unten als Windflüchter zu sehen sind. Einige zerzauste Büsche sind