Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches. Norbert Wibben. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Wibben
Издательство: Bookwire
Серия: Anna Q
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750222021
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Mal spricht Anna aus, was sie eigentlich nur gedanklich an die Elfe senden will. Den Fehler bemerkt sie an Robins fragendem Blick.

      »Entschuldige, das war für Ainoa bestimmt. – Ich beginne am besten mit dem Anfang der Ereignisse.«

      »Das ist keine schlechte Idee«, keckert der Vogel krächzend.

      Das beachtet Anna jedoch nicht und setzt sich mit Robin auf die Decke. Sie zerbröckelt einen der Schokokekse, die der Junge mitgebracht hat und streut die Krümel auf die Unterlage. Sie deutet darauf und sendet gedanklich: »Das ist für dich, du solltest es probieren.« Sofort folgt der Vogel der Aufforderung und hockt im nächsten Moment auf der Decke. Er legt den Kopf schrägt, klappert mit den Augendeckeln und nimmt vorsichtig einen ersten Krümel. Sofort kollert er zufrieden und schnappt sich das nächste Stück.

      Das Mädchen wendet sich jetzt an den Jungen.

      »Robin, ich möchte dir diesen Kolkraben vorstellen. Sein Name ist Ainoa und in Wahrheit ist er, besser gesagt, sie, eine Elfe. – Jetzt schau mich nicht so an, als ob ich verrückt geworden wäre. Es begann alles damit, als ich vor einigen Tagen in der Nacht ein Krächzen hörte. Eine Elfe, also dieser Rabe, steckte in einer Durchlauffalle, die vom Gärtner unter einem Haselbusch aufgestellt worden war.« Die nächsten zwei Stunden berichtet Anna. Sie wird nur gelegentlich vom Krächzen Ainoas unterbrochen, um eine Ungenauigkeit in dem Bericht zu korrigieren. Als das Mädchen endet, blickt es den Jungen flehend an. »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, ich sei verrückt geworden!« Robin schluckt mehrmals, so wie er es auch während des langen Berichts zwischendurch immer wieder gemacht hat. Dann wendet er sich zuerst an den schwarzen Vogel.

      »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Ainoa!« Dann blickt er Anna an. »Warum hast du mich nicht früher eingeweiht. Ich hätte doch mitkommen und dir, ähem, euch helfen können.« Anna fällt ein Stein vom Herzen. Robin glaubt ihr, das ist klar. Doch im gleichen Augenblick spürt sie, wie sich ihre Fäuste unwillkürlich ballen.

      »Warum meinst du, dass ich deine Hilfe benötigt hätte? Wie du soeben gehört hast, haben wir Saphira nicht nur gefunden, sondern auch sicher aus dem Nebelwald nach Hause …« Hier wird das aufgebrachte Mädchen, dass sich erhoben hat, von dem Jungen unterbrochen.

      »Halt! Sei nicht empört. Ich wollte keinesfalls andeuten, dass die Aufgabe mit meiner Hilfe besser oder schneller hätte gelöst werden können! Ich hätte dich nur zu gern begleitet, um die Wunder der Anderswelt mit eigenen Augen zu bestaunen. Außerdem …« Er macht eine längere Pause und blickt Anna direkt in die Augen, die sich währenddessen etwas verlegen auf die Decke setzt. »Ich verspürte im Nachhinein Sorge um dich! Mein Herz wollte bei deinem Bericht mehrfach stehenbleiben, so sehr fieberte ich um dich mit.« Die letzten Worte werden immer leiser, so dass sie kaum zu verstehen sind. Doch Anna und auch Ainoa haben ein feines Gehör.

      »Ich glaube, ich lasse euch doch allein«, krächzt der Vogel.

      »Das ist eine gute Idee«, sendet das Mädchen und wendet sich laut an Robin. »Auch wenn deine Sorge um mich im Nachhinein unnötig ist, freue ich mich darüber. Aber jetzt sollten wir uns beeilen, wenn wir nicht zu spät in den Speisesaal kommen wollen.« Auf das Gekrächze des Kolkraben antwortet sie so, dass der Junge es auch verstehen kann. »Danke für dein Angebot, Ainoa. Aber diesmal nutzen wir besser keine Zauberkräfte. Wir sehen uns vermutlich morgen Nachmittag. Lass es dir bis dahin gut gehen.« Der Vogel krächzt laut und schwingt sich in die Abendluft. Die Freunde packen die Decke zusammen und eilen zum Internatsgebäude.

      Die Treffen des Schachclubs finden in festgelegten Abständen in der Bibliothek statt. Viele der Spielpaarungen setzen sich aus etwa gleichstarken Teilnehmern zusammen. Das sind beispielsweise Anna und Robin, Benjamin und Caitlin oder Alexander und Harald. Professor Mulham achtet aber darauf, dass die Gegner regelmäßig wechseln. Es liegt auf der Hand, dass sie damit die schwächeren Spieler fördert. Einige der Teilnehmer reagieren zuerst frustriert. Die Stärkeren fühlen sich gelangweilt, nicht genügend gefordert. Sie merken aber schnell, dass sie trotz ihrer vermeintlichen Überlegenheit genauestens aufpassen müssen, um keine Fehler zu begehen. Bei den offensichtlich Schwächeren wird nach ersten Niederlagen deren Ehrgeiz geweckt. Sie konzentrieren sich, rufen Spielzüge der Gegner aus ihrem Gedächtnis auf und kopieren sie.

      »Ja, ja, ja!«, jauchzt plötzlich Finn, ein zwölfjähriger Junge mit dichten, rötlich braunen, gelockten Haaren und vielen Sommersprossen. Er besucht den zweiten Jahrgang der Schule, bildet mit der rechten Hand eine nach oben gerichtete Faust und stößt den Ellenbogen ruckartig nach unten. »Ja, ich habe ihn!« Sein Gegenüber, Alexander, kann es nicht fassen. Er, der bislang unumstrittene Champion der Schule, ist von einem der jüngsten Spieler besiegt worden!

      »Ich gratuliere dir!« Auch wenn dieser Satz etwas gepresst über die Lippen des 15-jährigen Schülers mit der schwarzen Lockenpracht kommt, reicht er dem Jüngeren die Hand. Der strahlt übers ganze Gesicht.

      »Danke!«, ist alles, was der erwidern kann. Sein Blick schweift in die Runde und zeigt seinen Stolz über den unerwarteten Sieg. Professor Mulham räuspert sich und bittet mit erhobenen Händen um Aufmerksamkeit.

      »Ich gratuliere dir, Finn!« Sie nickt in seine Richtung, dann blickt sie dessen Gegner an. »Alexander, dir möchte ich auch meinen Glückwunsch aussprechen. Halt, ich will dich nicht auf den Arm nehmen! Ich meine es ernst! Deine Gratulation an Finn zeugt davon, dass du ein guter Verlierer sein kannst, wenn du denn mal in diese Rolle schlüpfen musst.« Das Gesicht des Jungen schwankt kurz zwischen Verärgerung und Verwunderung. Dann überzieht es ein breites Grinsen.

      »Ich verstehe jetzt, warum wir starken Spieler ab und an gegen scheinbar schwächere antreten sollen, Morwenna. Es soll uns helfen, nicht überheblich und leichtsinnig zu werden. In einem Schachspiel steht der Sieger nicht von vornherein fest. Es gibt unzählige Faktoren, die dessen Ausgang beeinflussen können.«

      »Richtig!«, bestätigt die Professorin. »Ich bitte euch, immer daran zu denken!« Sie macht eine längere Pause, in der die anderen Mitglieder des Schachclubs ihre Glückwünsche Richtung Finn laut oder auch nur mit Gesten kundtun. »Das gilt besonders für die folgende Überraschung, die ich für euch habe. – Wir bekommen die Möglichkeit, in zwei Wochen an einem Vergleichswettkampf gegen die Schachgruppe eines Internats einer bekannten Universitätsstadt teilzunehmen.« Plötzlich ist es vollkommen still in der Bibliothek. Weder ein Scharren der Füße noch ein gelegentliches Husten oder Räuspern ist zu hören. Alle Schüler sind baff und starren Morwenna Mulham an.

      Alexander fasst sich ein Herz und beginnt: »Sind wir … ich meine … wie?«

      Die Professorin lächelt in die Runde. »Ich verstehe, dass euch das überrascht. Und um auf die Fragen zu antworten: Ja, ich glaube, ihr seid so weit. Und das Wie? Wir werden mit dem Zug fahren.« In der Folge erläutert Morwenna, wie es zu der Absprache für den Wettstreit gekommen ist, als sie wegen besonderer Recherchen in dieser Stadt war. Obwohl sie den Grund nicht nennt, zumal der den anderen nichts sagen würde, wissen Anna und Robin sofort, dass sich die Nachforschungen auf Seid Greif bezogen.

      In dieser berühmten Universitätsstadt ist Morwenna einer ehemaligen Studienkollegin begegnet, die ebenfalls die Schachgruppe eines Internats leitet. »Das dortige Schachteam nimmt regelmäßig an nationalen Wettkämpfen teil. Als ich bei Tee und Gebäck berichtete, dass wir im Aufbau eines derartigen Teams begriffen sind, machte sie den Vorschlag eines Vergleichswettkampfs. Es ist so, dass viele Spieler ihres Internats in der Vergangenheit nationale Sieger geworden sind. Und in der Teamwertung schaffen sie es regelmäßig unter die ersten fünf Plätze.« Die Professorin blickt in gerötete oder blasse Gesichter, die, je nach Temperament des Schülers, derart auf die Neuigkeit reagieren. »Innocent Green, das ist meine Studienkollegin, ist eigentlich eine liebenswerte Person.« In Gedanken sieht sie erneut, wie sie gemeinsam beim Tee sitzen. Ihre Kollegin hat grüne Augen, eine leicht rundliche Gestalt und ist 60 Jahre alt. Aus Eitelkeit nutzt sie nur gelegentlich eine Brille und färbt ihre Haare kastanienbraun, die zu einem unsymmetrischen Pagenkopf geschnitten sind. Sie trägt einen schwarzen Umhang,