Auch Unrat aß, und dann legte er sich auf das Sofa. Aber wie es alle
Tage ging, warf im rechten Moment, als er einnicken wollte, nebenan
seine Haushälterin ein Geschirr hin. Unrat fuhr auf und griff sofort
wieder nach Lohmanns Aufsatzheft, während er sich rosa färbte, als läse
er das die Scham Verletzende, das darin stand, zum erstenmal. Dabei ließ
es sich schon gar nicht mehr schließen, so sehr auseinandergebogen war
es an der Stelle, wo die »Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein
Rosa Fröhlich« sich befand. Der Überschrift folgten einige unleserlich
gemachte Zeilen, dann ein freier Raum und dann:
»Du bist verderbt bis in die Knochen,
Doch bist du 'ne große Künstlerin;
Und kommst du erst mal in die Wochen --«
Den Reim hatte der Sekundaner noch zu finden. Aber der Konditionale im
dritten Vers sagte viel. Er ließ vermuten, Lohmann sei an ihm persönlich
beteiligt. Dies ausdrücklich zu bestätigen, war vielleicht die Aufgabe
des vierten Verses gewesen. Unrat machte zur Erratung dieses fehlenden
vierten Verses grade solche verzweifelten Anstrengungen, wie seine
Klasse gemacht hatte zur Auffindung der dritten Bitte des Dauphins. Der
Schüler Lohmann schien sich, durch diesen vierten Vers, über Unrat
lustig zu machen, und Unrat rang mit dem Schüler Lohmann, in wachsender
Leidenschaft, voll des dringenden Bedürfnisses, ihm zu zeigen, er selbst
sei zuletzt doch der Stärkere. Er wollte ihn schon hineinlegen!
Die noch unförmlichen Entwürfe künftiger Handlungen bewegten sich in
Unrat. Sie ließen ihn nicht mehr stillhalten, er mußte seinen alten
Radmantel umhängen und ausgehn. Es regnete dünn und kalt. Er schlich,
die Hände auf dem Rücken, die Stirn gesenkt, und ein giftiges Lächeln in
den Mundfalten, um die Lachen der Vorstadtstraße herum. Ein Kohlenwagen
und ein paar kleine Kinder, sonst begegnete ihm nichts. Beim Krämer an
der Ecke hing hinter der Tür eine Ankündigung des Stadttheaters: Wilhelm
Tell. Unrat, von einer Idee getroffen, schoß mit eingeknickten Knien
darauf zu ... Nein, eine Rosa Fröhlich kam auf dem Zettel nicht vor.
Trotzdem konnte jene Frauensperson in diesem Kunstinstitut beschäftigt
sein. Herr Dröge, der Krämer, der das Programm an sein Fenster hing, war
vermutlich in den einschlägigen Dingen bewandert. Unrat hatte schon die
Hand auf dem Türgriff; aber er holte sie erschrocken zurück und machte
sich davon. Nach einer Schauspielerin fragen, in seiner eigenen Straße!
Er durfte die Klatschsucht solcher tiefstehenden, in den humanistischen
Wissenschaften unerfahrenen Bürger nicht außer Acht lassen. Bei der
Entlarvung des Schülers Lohmann mußte Unrat geheim und geschickt zu
Werke gehn ... Er bog in die Allee nach der Stadt.
Gelang es ihm, dann zog Lohmann im Sturz auch von Ertzum und Kieselack
nach sich. Vorher wollte Unrat dem Direktor keine Anzeige erstatten
darüber, daß man ihn bei seinem Namen genannt hatte. Es würde sich von
selbst zeigen, daß Solche, die das taten, auch jeder andern
Unsittlichkeit fähig waren. Unrat wußte es; er hatte es an seinem
eigenen Sohn erfahren. Diesen hatte Unrat von einer Witwe, die ihn einst
als Jüngling mit den Mitteln zu fernerem Studium versehen hatte, die er
dafür vertragsmäßig, sobald er im Amt war, geheiratet hatte, die knochig
und streng gewesen war, und nun tot war. Sein Sohn sah nicht schöner aus
als er selbst, und war überdies noch einäugig. Trotzdem hatte er sich
als Student bei Besuchen in der Stadt, auf offenem Markt mit
zweideutigen Frauenzimmern blicken lassen. Und wenn er einerseits in
schlechter Gesellschaft viel Geld vertat, so war er andererseits nicht
weniger als viermal durch das Examen gefallen, so daß er zwar immer noch
ein brauchbarer Beamter hatte werden können: doch nur auf Grund seines
Abiturientenzeugnisses. Ein peinlicher Abstand schied ihn von dem
höheren Menschen, der das Staatsexamen bestanden hatte. Unrat, der sich
entschlossen von dem Sohn getrennt hatte, begriff alles Geschehene; ja,
er hatte es fast vorausgesehen, seit er einst den Sohn belauscht hatte,
wie er im Gespräch mit Kameraden den eigenen Vater bei seinem Namen
genannt hatte!
Ein ähnliches Geschick durfte er also für Kieselack, von Ertzum und
Lohmann erhoffen, besonders aber für Lohmann, bei dem es ja, dank der
Künstlerin Rosa Fröhlich, im Anzuge schien. Mit der Rache an Lohmann
eilte es Unrat. Die beiden andern verschwanden fast neben diesem
Menschen und seinen unbeteiligten Manieren und dem neugierigen Bedauern,
womit er zusah, wenn der Lehrer zornig war. Was war denn überhaupt das
für ein Schüler?.. Unrat sann mit grabendem Haß über Lohmann nach. Unter
dem spitzbedachten Stadttor blieb er plötzlich stehn und sagte laut:
»Das sind die Allerschlimmsten!«
Ein Schüler war ein mausgraues, unterworfenes und heimtückisches Wesen,
ohne anderes Leben als das der Klasse und immer im unterirdischen Krieg
gegen den Tyrannen: so war Kieselack; oder ein dummer, starker Kerl, den
der Tyrann durch seine geistige Vorherrschaft in fortwährender
Verstörtheit erhielt -- wie von Ertzum. Lohmann aber, der schien ja den
Tyrannen =anzuzweifeln=! Unrat kochte allmählich von der Demütigung der
schlecht bezahlten Autorität, vor der ein Untergebener sich in guten
Kleidern spreizt und mit Geld klimpert. Das waren überhaupt, ward ihm
auf einmal klar, alles Unverschämtheiten und nichts weiter! Daß Lohmann
niemals staubig aussah, immer saubere Manschetten trug und solche
Gesichter machte: Unverschämtheiten. Der Aufsatz von heute, die
Kenntnisse, die dieser Schüler sich außerhalb der Schule holte und von
denen die verwerflichste die Künstlerin Rosa Fröhlich war:
Unverschämtheiten. Und als Unverschämtheit stellte sich nun mit
Sicherheit heraus, daß Lohmann Unrat =nicht= bei seinem Namen nannte!