Ich wollte weg!
Als ich durch das Gartentor ging, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass das mein wirklicher Wunsch war. Vielleicht hatte ich es vorher nie erkannt, weil es nicht sein konnte, als Kind der Mutter entfliehen zu wollen. Da gehörte es sich, ihre Nähe zu suchen, so wie ich es von den Anderen im Dorf vorgelebt bekam. Und ich hatte viel Kraft und Zeit aufgewendet, um tatsächlich in diese Richtung zu gehen. Aber je mehr ich mich angestrengt hatte, desto ferner wurde ich der Mutter. Bis zu dem Punkt, an dem ich sie wie eine Fremde hinter dem Küchenfenster stehen sah, und beschloss, dass es richtig war, was ich fühlte. Ich hätte schon gern gewusst, welche Gedanken ihr an diesem Vormittag durch den Kopf gegangen waren. Aber jedes Nachhaken hätte nur das Gefühl kaputt gemacht - das Gefühl, meiner Mutter mit dem Abschied näher gekommen zu sein, als in all den Jahren zuvor.
Also ging ich zurück zu Karl, um bei ihm zu bleiben.
Für vier Jahre.
Kapitel 3
Es verblieben nur wenige Wochen von meinem sechszehnten Jahr, als ich wusste, dass ich alles verwirkt hatte. Ich befand mich nicht mehr im Dorf. Dort war es mir nicht möglich, zu bleiben, nachdem es sich nicht länger leugnen lies, dass ich einen Fehler hatte. Aber ich lebte noch - das einzig Entscheidende.
Ich erinnere mich, wie es ein halbes Jahr zuvor angefangen hatte. Es war zu der Zeit, als das Weibliche kam. Wäre es allein gekommen, hätte ich mich kaum von den anderen unterschieden, aber mit ihm kam das Begehren.
Wäre doch nur das Begehren nicht gewesen … dann hätte alles so bleiben können.
*
An einem Wochenende kümmerte sich Karl nach dem Essen um die Küche. Was mich betraf, war diese Zeit der Mittagsruhe vorbehalten. Doch an diesem Tag kam es mir dafür in der Kammer zu warm vor. Also legte ich mich zwar auf das Bett, dessen rechte Seite die meine war, aber ich bemerkte bald, dass es unmöglich wurde, in den Schlaf zu finden. Ich schwitzte, zog das Hemd aus, allerdings kam die Hitze von innen. Mich quälte etwas ganz anderes. Wie von selbst griff ich nach der Decke und steckte sie dorthin, wo das herkam, was ich nicht kannte. Ich drückte mit der Hand so fest darauf, wie ich konnte, versuchte es zu ersticken. Doch der Druck verschaffte keine Linderung, er verschlimmerte meine Not, aber aus irgendeinem Grund brauchte ich diesen Schmerz und drückte noch stärker.
So war es von da an immer an den Wochenenden nach dem Mittagessen. Oft verstand ich mir nicht anders zu helfen, als mich tief unterhalb des Bauches fest zu kneifen. Schmerz vermochte, es für Sekunden auflösen. Ich wusste nur nicht, wie ich es endgültig still werden lassen konnte. Ich ahnte ja nicht, dass es diese Möglichkeit gab, dass man es nicht ständig ertragen musste.
Ich denke, es war die Ruhe in der Mittagsstunde, die mir immer wieder Gelegenheit gab, zu dem zurückzufinden, von dem ich erst viel später erfuhr, dass es Begehren war. Es dauerte nicht lange, bis ich bereits an den Vormittagen ahnte, wie es mich nach dem Essen heimsuchen würde. Und es steigerte sich beständig, bis es nicht mehr half, sich an ablenkende Dinge zu krallen und ich den Widerstand aufgab.
Spätestens da wurde alles zu einem Fehler. Meine Wünsche und Vorstellungen wurden maßlos und verbanden sich mit einer heimlichen Vorfreude. Wochen später gierte ich danach, die nächstbeste fremde Hand zu nehmen und sie dorthin zu pressen, wo die Not am größten war. Damit ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte - damit sie machte, dass es aufhörte.
Doch ich musste noch warten, bis ich lernte, wie man es aufhören ließ.
*
Es war nach dem Brand beim Nachbarn. Ein Teil vom Nebengelass der Mühle war in Rauch aufgegangen. Der Giebel unseres Hauses befand sich unglücklicherweise daneben, getrennt nur durch einen schmalen Weg. Keine Hürde für die Flammen. Wären wir ihrer eine viertel Stunde eher Herr geworden, wäre es für uns gut ausgegangen. So jedoch sprangen sie über. Ein überschaubarer Schaden, aber es sollte dennoch eine Woche dauern, ihn zu beheben. Erst hieß es, dass der Geselle etwas damit zu tun hatte - wahrscheinlich nur, weil man einen Schuldigen brauchte. Später musste der Müller selbst zugeben, dass er mit seiner Pfeife unachtsam war. Er war widerlich. Nur zu gern hätte er den Gesellen geopfert, um seinen Ruf unbeschadet zu lassen.
In der Woche, in der der Müller unser Dach wieder herrichten lies, schliefen wir woanders. Karl bei einem Freund und ich bei Anika, die in meinem Alter war und schräg gegenüber am Anfang des Sandweges wohnte. Anika mochte ich. Sie war in ihrer Art angenehm, eher zurückhaltend, so wie ich. Sie hatte einen älteren Bruder. Seinen Namen habe ich nicht behalten, dafür aber etwas anderes.
Anika und ihr Bruder besaßen eine eigene Kammer. Allein das zeigte schon, wie gut situiert ihre Eltern waren. Zum Abendbrot gab es Gebratenes. Die Erwachsenen tranken Wein. Beides kannte ich unter der Woche weder von Mutter noch von Karl. Und es sah nicht danach aus, als hätte man nur wegen meines Besuches mehr als sonst aufgetischt. Ich vermutete, dass es ihnen besser ging, als Karl und mir.
Als wir uns die Bäuche vollgeschlagen hatten, war es Schlafenszeit. Wenn ich satt war, wurde ich für gewöhnlich müde. Nur nicht an diesem Abend. Ich machte mir auf dem Boden mit Decken einen Platz für die Nacht zurecht. Nicht gemütlich aber ausreichend. Als ich so darauf lag, dachte ich an den Müller und den Groll, den ich gegen ihn hegte, und an den Sommer, der allmählich beschloss, uns zu verlassen. Neben mir hörte ich ein ruhiges Schnaufen. Es kam von Anika. Sie war eingeschlafen, kaum, dass wir zu Bett gegangen waren. Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke, in der Hoffnung, davon müde zu werden. Als es nach einiger Zeit nicht danach aussah, fiel mir auf, dass Anikas Bruder ebenfalls noch wach war. Er konnte wohl auch nicht an Schlaf denken. Er bemerkte nicht, dass ich ihn beobachtete, weil ich mich still verhielt. Etwas bewegte sich unter der Decke, etwas, das seinen Atem schneller werden ließ. Ich rief nach ihm, da stieg ihm augenblicklich die Verlegenheit ins Gesicht und er rührte sich nicht mehr.
»Was machst du?«, fragte ich.
Er antwortet nicht.
»Was du machst, hab ich gefragt. Zeig schon!.«
»Pst! Sonst weckst du Anika auf.«
»Das macht mir nichts.«
»Mir aber.«
»Anika«, flüsterte ich in ihre Richtung, um ihn aufzubringen.
»Lass das!«
»Anika!« Diesmal wurde ich lauter.
»Sei endlich still!« Er setzte sich im Bett auf. Mir war anzusehen, dass ich keine Ruhe geben würde. Ganz offensichtlich suchte ihn das gleiche Leiden heim, das auch mich so oft quälte. Uns trennten mehr als zwei Jahre – Zeit genug, damit er wusste, wie man es bändigte.
»Schleich dich nach draußen. Wir treffen uns beim Stall. Aber sei leise!«
Ich schlüpfte in die Schuhe und wir gingen fast geräuschlos aus dem Haus. Weder Anika noch ihre Eltern bemerkten etwas.
Der Stall befand sich am anderen Ende des Hofes.
»Ich will es sehen!«, forderte ich.
»Bist du dir sicher?«, fragte er.
Ich nickte.
Als er keine Zweifel an mir feststelle, ließ er seine Hose hinunter. Er genoss meine Blicke.
Ich wurde unsicher. Was ich sah, wirkte nicht schön, weit weniger wohlgeformt, als ich gedacht hatte. Aber falls ich wollte, dass es endlich aufhörte, musste ich bleiben und ihm gut zureden, damit er es mir zeigte.
»Zuerst bei dir oder bei mir?«
»Bei mir. Bitte bei mir!«
»Und was ist, wenn wir erwischt werden.«
»BITTE!«, bettelte ich.
»Aber